Die „Antidemokrat!“-Brüller
Die jüngsten Äußerungen von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, wonach man die Direktwahl des Europaparlaments überdenken sollte, haben wieder einmal die politischen Wogen hochgehen lassen. Von einem „Angriff auf die liberale parlamentarische Demokratie“ spricht der scheidende EP-Vizepräsident Othmar Karas, SPÖ-Europaspitzenkandidat Andreas Schieder nennt den Vorschlag „autoritär und antidemokratisch“ und Neos-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter beklagt pathetisch, Orbán würde uns damit „das wichtigste Recht der Demokratie nehmen“.
In keiner der Reaktionen wird darauf eingegangen, was Orbán da tatsächlich zur Diskussion stellt oder gar warum. Denn dann müsste man sich ja vielleicht mit unangenehmen Dingen auseinandersetzen. Oder gar feststellen, dass der eine oder andere Kritikpunkt am EU-Parlament gar nicht so aus der Luft gegriffen ist. Tatsächlich hat Orbán nämlich im Rahmen eines ausführlichen Gesprächs mit Altkanzler Wolfgang Schüssel für die Presse auf die Frage, wie denn eine erweiterte EU funktionieren könne, geantwortet: „Wir sollten erwägen, zum früheren System zurückzukehren, bei dem nationale Parlamente ihre Vertreter in das Europäische Parlament entsenden, anstatt Direktwahlen durchzuführen“.
Denn eines lassen die vereinten Orbán-Kritiker beflissentlich unter den Tisch fallen: Bis 1979 wurde das Europaparlament genau so besetzt. Es war eine parlamentarische Versammlung, zusammengesetzt aus direkt gewählten Abgeordneten der jeweiligen nationalen Parlamente. Sie waren weiterhin Abgeordneten in ihrem Heimatland und zusätzlich im Europaparlament. Niemand kam damals auf die Idee, dies sei autoritär oder antidemokratisch. Mit der politischen Entscheidung, dies ab 1979 zu ändern und künftig die Abgeordneten direkt zu wählen, waren vielfältige Hoffnungen verbunden. Weder wurden damit aber die Erwartungen auf mehr Bürgernähe erfüllt, noch wurde damit ein einheitliches europäisches Wahlvolk – geschaffen. Was dem Europaparlament – unter dem Dauerhinweis auf seine einzigartige Legitimierung durch eine Direktwahl – tatsächlich gelang, war die beachtliche Ausweitung seiner Kompetenzen. Aus dem ursprünglichen Kontroll- und Diskussionsgremium wurde ein gleichberechtigter Gesetzgeber im europäischen Institutionengefüge und somit die einzige direkt gewählte supranationale Institution weltweit. Diese nicht mehr direkt zu wählen, wäre tatsächlich ein Rückschritt und politisch wohl nur schwer zu erklären. Antidemokratisch wäre es aber nicht. Schon allein deshalb nicht, weil dafür eine EU-Vertragsänderung nötig wäre. Und dafür gibt es klare demokratische Spielregeln. Von den dafür notwendigen Mehrheiten ganz zu schweigen. All das hätte man zu Orbáns Vorstoß sagen können. Statt einfach „Antidemokrat!“ zu brüllen.
Stefan Brocza ist Experte für Europarecht und internationale Beziehungen.
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