Der Denkfehler Neutralität

Der Denkfehler Neutralität
Warum wir uns einer echten Debatte stellen müssen

Die Neutralität ist für viele Politikerinnen Totem und Tabu. Bundeskanzler Karl Nehammer meint, Österreichs Neutralität sei „gelebte Friedenspolitik.“ Europaministerin Karoline Edtstadler sagte, die Neutralität sei „identitätsstiftend für Österreich, das war so, und das wird so sein“.

Da war die ÖVP schon mal mutiger. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erklärte bereits 2001, dass die alte Schablone Neutralität in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr greife. SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner meint, die Neutralität „stärke unsere Sicherheit“, FPÖ-Obmann Herbert Kickl nennt sie einen „Schutzschirm für Österreich“. Das zeigt, dass vielen nicht klar ist, was die Neutralität zu leisten imstande ist.

Aber auch jenen, die sie völkerrechtlich einwandfrei deklinieren können, unterlauft ein ähnlicher Gedankenfehler. Die Neutralität ist nämlich nur ein Wunsch. Neutral ist man so lange, bis andere entscheiden, dass man es nicht mehr ist.

Neutralität ist ein vorübergehender Zufall der Geschichte. Neutralität produziert keine Sicherheit. Wenn sie noch dazu, so wie Österreich heute, beinahe hilflos unbewaffnet ist, ist sie eine Einladung zum Überfall.

Belgien war neutral, bis es vom Deutschen Kaiserreich überfallen wurde. Norwegen und Dänemark erklärten am Anfang des 2. Weltkriegs ihre Neutralität, die genau sieben Monate hielt, bis Hitler sie überfiel. Auch die Niederlande waren neutral, bis sie vom Dritten Reich überfallen wurden.

Für eine Invasion der Schweiz gab es einen konkreten Plan, die Operation Tannenbaum, nach der die Schweiz heute wohl genauso in der NATO wäre wie Belgien, Norwegen, Dänemark und die Niederlande. Und die Ukraine war neutral, bis sie von Russland überfallen wurde. Die Neutralität mag ein Wunsch vieler sein. Die Meinungsforschung sieht noch satte Mehrheiten für eine Beibehaltung der Neutralität, im Mai 2022 71 Prozent. Andererseits wird trotz mangelnder öffentlicher Diskussion vielen klar, dass sich die Welt ändert. In einer Umfrage im selben Monat meinte eine Mehrheit, dass es in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine engere Abstimmung zwischen den EU-Staaten geben müsse. Die Meinung zu einer militärischen Beistandspflicht innerhalb der EU wird selten abgefragt.

Eine vorausschauende politische Entscheidung zur Frage unseres Umganges mit der Beistandsklausel der EU ist jedoch dringend erforderlich. In unserem Europa heute neutral zu sein, mag kostengünstig scheinen, weil unsere Nachbarn in der NATO sind, und die NATO noch nie in ihrer bald 75-jährigen Geschichte ein Land angegriffen hat. Bauernschlau sein; keine Hausversicherung zu kaufen; anderen nicht zu helfen, wenn ihr Haus brennt; aber wenn unser Haus brennt zu erwarten, dass andere uns helfen: das scheint bei näherer Betrachtung nicht schlau.

Veit Dengler ist Unternehmer und Parteigründer (Neos).

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