Den Opfern eine Stimme geben

Den Opfern eine Stimme geben
In unseren Zeiten ist manches aus der Balance geraten. Gedanken nach dem Urteil im Fall Teichtmeister. Von Mirjam Schmidt.

„Ubi societas ibi ius.“*

Die österreichische Rechtsordnung sieht vor, dass eine Strafe im Sinne einer erzieherischen Wirkung die Zwecke von Generalprävention und Spezialprävention verfolgt.

Wurde diesen Grundsätzen im Fall Teichtmeister, wo es unter anderem um die Beschaffung von Missbrauchsdarstellungen von sexualisierter Gewalt an unzähligen Kindern ging, Genüge getan? Ist es möglich, dass die Waagschalen der Gerechtigkeit aus dem Gleichgewicht geraten sind?

Seelische Narben

Ich frage mich, wie es sein kann, dass die abertausenden namenlosen Opfer, die diesem „Konsum“ (ein entsetzliches Wort in Bezug auf das menschliche Leid) erst möglich gemacht haben, ein Leben lang die Narben ihrer seelischen und körperlichen Schändung tragen müssen und Herr Teichtmeister freien Fußes die ersten neuen beruflichen Pläne schmiedet, bis die verfließende Zeit seinem Namen möglicherweise wieder neuen Glanz verleiht.

Beim Namen nennen

Es scheint mir, dass heute mehr denn je Menschen mit Charakter gefragt sind, die das Herz auf dem rechten Fleck haben, furchtlos die Dinge beim Namen nennen und den Opfern eine Stimme geben.

Es braucht Verantwortliche, die bereit sind, mit Besonnenheit und Klarheit die Sümpfe trockenzulegen, in denen die Blüten des Bösen, in Anbetracht derer es mir zugegebenermaßen die Sprache verschlägt, kultiviert werden, um die Kunst- und Kulturszene als einen Ort ethischer Kompetenz zu etablieren.

Biotope der Perversion

Wenn Gewalt und Abartigkeit, in der Kunstszene nicht unmissverständlich als Unrecht benannt werden, sondern mancherorts den Nimbus der Salonfähigkeit zu haben scheinen, bereitet dies den Boden für Biotope der Perversion. Viele Künstlerinnen und Künstler erkennen das Unrecht und beginnen aus dem Schatten herauszutreten. Hier braucht es gemeinsame Entschlossenheit und entschiedenes Vorgehen.

Sprache ohne Seele

In unseren Zeiten ist manches aus der Balance geraten: Wir überfrachten unsere Sprache, um niemanden auszugrenzen oder zu verletzen und machen sie damit zu einem alltagsuntauglichen Monstrum, wir rauben ihr den Klang und die Seele. Gleichzeitig übersehen wir, dass die Kompassnadel des Gewissens vieler Zeitgenossen zerbrochen ist.

Kann der Herzschlag der Justitia aus dem Takt geraten? Braucht man auf der Suche nach der Wahrheit noch immer ein schnelles Pferd?

Noch eine Frage

Ich stelle mir Inspektor Columbo vor, wie er nach dem Prozess noch einmal in den großen Schwurgerichtssaal im Wiener Landesgericht zurückkehrt und sagt:

„Euer Ehren, ich hätte da noch eine Frage: Wie halten wir es in Österreich mit der Gewaltenteilung?“

Honi soit qui mal y pense.**

* lat. für „Wo Gesellschaft, dort Recht.“

** franz. für„Ein Narr, der Böses dabei denkt“

 

Mirjam Schmidt ist Dirigentin in Wien

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