Angst vor uns selbst

Angst vor uns selbst
Die postmoderne Gesellschaft ringt mit ihrer Körperlichkeit

Der von Norbert Elias ausführlich analysierte „Prozess der Zivilisation“ hat in der Moderne zu einem historisch einzigartigen Niveau an kultivierter Kontrolle von Körperlichkeit geführt: Noch nie zuvor haben wir es mit einer so niedrigen Schwelle für Scham und einer so hohen Schwelle der Sittlichkeit zu tun gehabt, noch nie haben wir körperliche Bedürfnisse dermaßen diszipliniert und tabuisiert. Während die meisten von uns Hygiene, Höflichkeit und andere Aspekte dieser evolutionären Entwicklung schätzen, zeichnen sich Nebenwirkungen ab: Negative Gefühle wie Angst oder sogar Ekel kennzeichnen zwar in weitgehend wünschenswerter Weise unser Verhältnis zu physischer Gewalt (von der Ohrfeige als Erziehungsmittel bis zur militärischen Auseinandersetzung).

Gleichzeitig verdrängen viele trotz exzessiven Fleischkonsums die damit einhergehenden, unliebsamen Tatsachen (von der Schlachtung bis zur Massentierhaltung), was Supermärkte mit attraktiv verpackten Lebensmitteln unterstützen. In übersteigerter Form führt das zu einer geradezu „postmodernen“ Ablehnung jener biologischen Grundlagen, auf die unsere Gesellschaft (noch!) angewiesen ist, um nicht auszusterben. Natürlich realisiert die Natur sich nicht unmittelbar, sondern in Wechselwirkung mit einer sozialen und kulturellen Wirklichkeit. Sich auf diesen „Überbau“ zurückzuziehen und dort das Dachgeschoß auszubauen um der „Basis“ zu entkommen, ist doch etwas abgehoben. Es erinnert an jene, die ihre Augen vor der Realität verschließen und Sprachspiele oder Sprachregelungen mit Gesellschaftspolitik verwechseln.

Insgesamt ist es nicht weniger heuchlerisch, als nach dem Abendessen im angesagten Steakhouse „Fifty Shades of Grey“ im Kino zu sehen, zugleich den Anblick geschlachteter Tiere nicht zu ertragen und tags darauf sogar eine Trigger-Warnung für Ovids „Metamorphosen“ zu verlangen. Während in Fitnessstudios und Fernsehsendungen oder auf Kanälen von Influencer(inne)n ein regelrechter Kult um den Körper und um dessen öffentliche Inszenierung tobt, wird (oft unter der Flagge des Feminismus) aufgrund ihrer mitunter problematischen Konsequenzen ein intellektueller Kampf gegen die unvermeidbare Körperlichkeit geführt.

Schließlich können, so heißt es, vor allem weiblich gelesene Körper vom patriarchalen Kapitalismus als Ressourcen für die Reproduktion ausgebeutet werden. Immer klarer scheint sich daher abzuzeichnen, dass es lieber früher als später darum gehen sollte, das Problem der biologischen Reproduktion unserer Gesellschaft von Fragen des individuellen Liebes- und Zusammenlebens zu lösen. Erst wenn die sozialpolitische Tragweite des Problems der Fortpflanzung für eine emanzipierte Gesellschaft erkannt und in den Bereich staatlicher Verantwortung und Versorgung übernommen worden ist, können andere Fragen rund um Sex und Gender guten Gewissens der privaten Freiheit der Einzelnen überlassen bleiben.

Paul Reinbacher arbeitet als Sozial- und Wirtschaftswissenschafter an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz.

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