"Europas Grenzen"
Die Kritik an europäischer Passivität ist berechtigt.
Der Umgang mit der Flüchtlingskrise zeigt Europa seine Grenzen auf. Eine der wichtigsten Errungenschaften, die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU, steht auf der Kippe. Mitgliedstaaten übergehen EU-weite Rechtsnormen, definieren europäische Werte neu und suchen ihr Heil in kurzfristigen nationalen Lösungen. Die aktuellen Entwicklungen sind Folge der zögerlichen Wahrnehmung eines sich schon seit langem abzeichnenden Problems, von fehlender Solidarität und mangelndem Dialog. Die 28-EU-Mitglieder wären gut beraten, rasch zu einer tragfähigen, gemeinsamen Vorgehensweise zu finden. Zu einer europäischen Politik, die Flüchtlingskatastrophen als solche wahrnimmt und rechtzeitig darauf reagiert.
Grenze in den Köpfen
"Offene Grenzen" zählen bisher zu den am positivsten bewerteten europäischen Integrationsschritten – wenn es um die Reisefreiheit geht. Das grenzenlose Europa wird aber eben auch nicht selten mit steigender Kriminalität, Lohndumping und Zuwanderung verbunden. In den vergangenen Monaten wurde wenig unternommen, um diesen Ängsten entgegenzuwirken. Notwendig sind daher eine Deeskalation der Worte und Bilder und deutlichere Aussagen: Temporäre Grenzkontrollen sind im Rahmen des Schengen-Abkommens in Ausnahmefällen möglich und genau geregelt. Weniger Schuldzuweisungen, sondern tatsächliche Unterstützung bei der Organisation der Außengrenzen sowie ein klares Bekenntnis zu deren Schutz. Dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung muss Rechnung getragen werden. Aber nicht durch den Ausbau der "Festung Europa", sondern durch finanzielle und logistische Hilfe für die betroffenen Länder. Eine faire Aufteilung von Asylsuchenden sowie mehr Engagement der EU in den Krisen- und Nachbarländern selbst.
Die Kritik an europäischer Passivität und divergierenden Ansätzen ist berechtigt. Die jüngsten Entwicklungen, aber auch bereits der Umgang mit der griechischen Schuldenkrise, haben aufgezeigt, wie massiv Europas Grenzen sind – vor allem auch in unseren Köpfen. Die EU-Mitgliedsländer sollten daraus ihre Lehren ziehen und eine europäische Außen- , Flüchtlings- und Migrationspolitik zulassen. Wie unverrückbar sind die europäischen Werte wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit, Solidarität, Nichtdiskriminierung, Toleranz und Wahrung der Menschenrechte wirklich? Sind Vorstellungen von ethnisch homogenen Nationalstaaten mit der europäischen Integration und einer globalisierten Welt vereinbar? Wie kann ein alterndes Europa wettbewerbsfähig bleiben und seine Sozialsysteme garantieren, wenn nicht durch geregelte Migration?
Angesichts der unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Union stehen wir zurzeit an einer Weggabelung der europäischen Integration. Aber nationale Selbstverzwergung und Abschottung lösen keine Probleme sondern drohen die bisherigen Errungenschaften zu zerstören.
Mag. Paul Schmidt ist Generalsekretär derÖsterreichischen Gesellschaft für Europapolitik
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