EM-Kolumne von Thomas Glavinic: Glamourfaktor

20.06.1976: Sepp Maier wird von Antonin Panenka eiskalt verladen.
Thomas Glavinic

Thomas Glavinic

Die unterschiedliche Ausstrahlung der Endspiele. Manche klingen sogar legendär.

von Thomas Glavinic

über das EM-Finale

POR – FRA lautet also das Kürzel für das EM-Finale. Nicht unattraktiv. Ich rede jetzt nicht so sehr über die konkreten Teams, wie sie heute Abend auflaufen werden, sondern über den Glamourfaktor, über die Geschichtsträchtigkeit der Begegnung. Es gibt ja Endspiele, die nach Jahren noch legendär klingen.

1960: SowjetunionJugoslawien! Das war eine legendäre Paarung! Aus heutiger Sicht natürlich auch deswegen, weil es beide Staatengebilde nicht mehr gibt. Aber zum Beispiel das damalige Spiel um Platz 3 zwischen der Tschechoslowakei und Frankreich hört sich definitiv weniger glamourös an, obwohl auch die CSSR Geschichte ist.

Übrigens klingt CSSR für mich komischerweise auch legendärer als Tschechoslowakei. CCCP fand ich als Kind auf den sowjetischen Trikots legendär einschüchternd, die "Rote Maschine" eben, dann brachte mir mein Vater die kyrillischen Buchstaben bei, und ich verstand, dass CCCP SSSR heißt, Sojus Sozialistblabla Sowjetblabla Republikjaja. SSSR klang ebenfalls einschüchternd. UdSSR nicht minder. Sehr legendär, sehr Atombombe.

Meine persönliche Endspiel-Bilanz:

1964: SpanienUdSSR: Glamourfaktor ( GF) 7 von 10 Punkten.

1968: ItalienJugoslawien, GF 7.

1972: BRDUdSSR, GF 8.

1976: CSSR – BRD, GF 8.

1980: BRDBelgien, GF 5.

1984: FrankreichSpanien, GF 7.

1988: NiederlandeUdSSR, GF 7.

1992: DänemarkDeutschland, GF 4.

1996: DeutschlandTschechien, GF 3.

2000: FrankreichItalien, GF 8.

2004: GriechenlandPortugal, GF 2.

2008: SpanienDeutschland, GF 6.

2012: SpanienItalien, GF 7.

Das ist zum einen freilich totaler Humbug, vermutlich nicht einmal in sich halbwegs schlüssig und sehr widersprüchlich, aber eben meine spontane individuelle Beurteilung der EM-Finalgeschichte. Je weiter zurück das Ereignis liegt, desto legendärer, ja klar. Was mich aber beunruhigt: Ich wusste alle Finalergebnisse ab 1976 auswendig. Bis auf eines. Das von 2012. Es war wie ausgelöscht. Wissen Sie es noch?

Legendenfaktor

Heute sehen wir Portugal gegen Frankreich. Ich würde ja GF 6 geben. Aber vielleicht geschieht ein Wunder, und wir erleben ein wahrhaft denkwürdiges Finale. Vielleicht schießt Ronaldo drei Tore, es steht nach 90 Minuten 3:3, und in der Verlängerung packt er noch drei drauf. Ich würde es ihm gönnen. Er allein erhöht den Glamour- und Legendenfaktor um 1 Punkt. Ohne Typen wie ihn oder Zlatan Ibrahimovic wäre Fußball nur halb so schön. Mit Interesse habe ich festgestellt, dass Menschen, die CR7 oder Ibra nicht mögen, tendenziell selbstironieärmere Persönlichkeiten sind.

Also okay, dank Ronaldo geben wir #PORFRA Glamourfaktor 7.

Wird es ein so gewaltiges Endspiel, wie wir es uns wünschen? Ich habe leider meine Zweifel. Dass diese EM so ausgeglichen und überraschend verlief, hat meines Erachtens weniger damit zu tun, dass die kleinen Nationen so sehr aufgeholt haben, sondern damit, dass die Stars allesamt nach 50 Spielen oder mehr schlicht und einfach kaputt sind. Außer Form, müde, im Kopf wie körperlich.

Aber weniger Spiele bedeuten weniger Geld, also werden sich weiterhin alle zwei Jahre die Größten der Großen am Ende der Saison krankenstandsreif und dem Burnout nahe zu den großen Turnieren schleppen. Ich bin ja gespannt, welche diesbezüglichen Einflüsse das WM-Projekt Katar haben wird. Ob Joseph Blatter das Endspiel in Doha sehen wird oder, naja, hehe, Sie wissen schon wo?

Bis dahin haben wir jedenfalls noch ein paar Chancen auf das eine oder andere legendäre Endspiel. Ich wünsche uns heute eines, an das wir uns für immer erinnern werden.

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