Die Vermessung der Schildkröte

Der Kollege lagert im Kühlschrank Erde. Und Lollo und Rosso.
Simone Hoepke

Simone Hoepke

Der Kollege lagert im Kühlschrank Erde. Und Lollo und Rosso.

von Mag. Simone Hoepke

über Schildkröten

Der beste aller Kollegen hat sich einen Party-Kühlschrank zugelegt. Nur für den Winter. Das ergibt aus seiner Sicht durchaus Sinn.

Er hat nämlich nicht vor, zu einer Fete einzuladen. Wer weiß, was er in der neuen Minibar lagert, findet das auch gut so.

Es ist ein Kist’l voller Maulwurfs-Erde. Begraben unter einem Haufen Laub. Und mittendrin Lollo und Rosso. Zwei halbgefrorene Schildkröten.

Schuld ist die Züchterin. Sie sagt, das wäre die optimale Art der Überwinterung. Die Tiere fühlen sich im feuchtkalten Klima pudelwohl. Damit ihnen auch wirklich nichts fehlt, besprüht der Kollege den Laubhaufen regelmäßig mit Wasser. Da lässt er sich nichts nachsagen.

Das ist amtlich. Ein Magistratsbeamter hat den Neo-Schildkröten-Papa angerufen und nach dem Wohl seiner Schützlinge gefragt. Er schwankte zwischen Rührung und Empörung. Die Stadt beschäftigt Menschen, die Schildkröten hinterhertelefonieren, aber wie manche Eltern mit Kindern umgehen ist wurscht, schimpft er nach so gut wie jedem Fußballmatch der U-9.

Bevor er Lollo und Rosso in den Winterschlaf geschickt hat, hat er die beiden noch auf einen Tesafilm gepickt. Und selbigen auf Millimeter-Papier. Zur Vermessung des Tiers. Auf dem Bauch und auf dem Panzer liegend. Das Amt will es so.

Meine Schwiegermutter hatte 40 Jahre eine Landschildkröte, die Susi. Die genauen Maße von Susi sind nicht überliefert, aber jeder im Ort hat sie gekannt. Deswegen führten all ihre Ausreißversuche verlässlich zurück nach Hause.

Einmal ist ein Halbstarker mit dem Moped über ihren Panzer gefahren. Nix passiert.

Trotzdem ist Susi tot, ermordet. Von einer Wespe, die sie in den Hals gestochen hat.

Meine Freundin hatte auch so einen Artgenossen. Den Nepomuk. Er war immer da, seitdem sie denken konnte. Bei jedem Sommerfest, Geburtstag und Familiendrama. Plötzlich hat er sich komisch verhalten. Sissi hat es sofort bemerkt, ist mit ihm zum Tierarzt geeilt. Der hatte eine Erklärung. Nepomuk war tot.

Nepomuk gestorben? Damit war nicht zu rechnen. Das hatte er wirklich noch nie gemacht.

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