Der Kanarienvogel, der nicht mehr singt
In der EU mangelt es daran, mit Bürgern zu kommunizieren
Die Nacht des Brexit-Referendums war eine der dramatischsten in der britischen Politik. Der Gouverneur der Bank of England muss in den frühen Morgenstunden erscheinen, um die Nation zu beruhigen. Allein seine düstere Erscheinung unterstreicht den Ernst der Situation, in der Märkte schlittern, das Pfund fällt und Vertrauen verdampft. Der Mangel eines Plans der Brexiter ist kritisiert worden, aber die EU hatte überraschenderweise auch keinen. Ziemlich beleidigt wollen viele, dass Großbritannien nun schnellstmöglich verschwindet. Im Hinblick auf die Wahlen im nächsten Jahr in Deutschland und Frankreich wäre das nett, aber das allein ist schon gar kein Plan. Es wird interessant sein, die Koordination zwischen den 27 Ländern zu beobachten, da die Interessen der osteuropäischen Mitgliedsstaaten sich zunehmend von denen des Rests unterscheiden.
Rosinenpicker
Es ist eine fixe Idee europäischer Politiker gewesen, sich auf die "Rosinenpickerei" zu konzentrieren – eine Mischung aus Neid, den britischen Unterhändlern Zugeständnisse gemacht zu haben, und einem angeblich altruistischen Handeln ihrer selbst. Dabei übersieht man, dass es in der EU daran mangelt, mit Bürgern zu kommunizieren, die das Vertrauen in die Fähigkeit zur Verantwortung und ernst gemeinten Reformen der Union verloren haben.
Es ist möglich, dass der Brexit sich niemals ereignet, aber es ist Fakt, dass über 17 Millionen dafür gestimmt haben und viele Millionen, die für einen Verbleib in der EU stimmten, taten dies in der Hoffnung auf baldige Reformen. Sie haben nicht für den Status quo gestimmt, sondern für mehr Flexibilität.
Die Umstände ändern sich, aber die EU gräbt ihre Hacken in die Freizügigkeit, als ob sie wenig anderes hätte, um alles zusammenzuhalten. Flexibilität à la carte wird im Vorhinein abgelehnt, so als ob allen dasselbe Menü serviert würde, unabhängig von Zeit und Kontext. Personenfreizügigkeit für Arbeiter mit fixen Jobangeboten in einem Land könnte die Grundsätze bewahren und ein Migrations-Solidaritätsfond könnte Spannungen in besonderen Regionen abschwächen.
Nachbeben
Die Begeisterung für ähnliche "Exits" hat seitdem abgenommen. Kein Wunder, wenn man sieht, wie die fünftgrößte Wirtschaft der Welt darunter leidet. Dennoch zeigt es, dass die EU mehr auf Projektangst baut als auf positive Zusammenschlüsse.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass die EU, die jetzt von den Fußfesseln eines widerspenstigen Partners befreit ist, sich zu größeren Höhen aufschwingen kann. Das wird ohne den Willen zu Reform nicht passieren. So wie die Londoner Times es bezeichnete, war der "Brexit nur der Kanarienvogel im Kohlenbergwerk".
Der britische Kanarienvogel ist vielleicht verstummt, aber seine Warnung lebt weiter.
Dr. Melanie Sully ist britische Politologin und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance
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