Brexit-Verhandlungen: Wem die Stunde schlägt
Jetzt geht London in die Offensive
Der Chefunterhändler der Europäischen Union, Michel Barnier, hört nur, wie die Brexit-Uhr tickt. Boris Johnson, Außenminister des Vereinigten Königreichs, pfeift auf die finanzielle Rechnung für den Austritt.
London war bisher verblüfft über die Einigkeit der EU-27. Alle Mitgliedsstaaten sind jedoch daran interessiert, Geld von Großbritannien zu bekommen, den Status der EU-Migranten zu sichern und den Frieden in Irland zu erhalten. Bei diesen drei Punkten ist Barnier auf der Suche nach "ausreichendem Fortschritt", bevor es an den Kern der Verhandlungen geht, nämlich die künftige Handelsbeziehung mit dem Vereinigten Königreich.
Jetzt geht London in die Offensive und akzeptiert, dass es einen Austrittspreis geben muss, lehnt aber eine genaue Zahl ab. Großbritannien ist mit rund 15 % an der Finanzierung aktueller Projekte für Städte, Unternehmen und Hochschulen in der EU beteiligt. "Kein Deal" würde bedeuten, dass andere Mitgliedsstaaten Kürzungen vornehmen oder mehr bezahlen müssten. Darüber hinaus hat die EU finanzielle Verpflichtungen beispielsweise für grenzübergreifende Friedensprojekte in Nordirland.
Für EU-Migranten war es ein Schock, dass für sie keine wohlerworbenen Rechte gelten. Ein Grundsatz der EU ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit, und diese Lücke soll repariert werden.
Bevor Artikel 50 ausgelöst wurde, beharrte die EU unnachgiebig auf der Position "keine Verhandlungen ohne Kündigung". Jetzt lautet die Devise "keine weiteren Verhandlungen ohne Fortschritte in drei Bereichen", was zu einer Blockade führen könnte.
Der EU selbst steht eine schwierige Phase bevor. Es gibt unterschiedliche Interessen bezüglich der Sozialleistungen und Kinderbeihilfe, die an EU-Migranten zu zahlen sind.
Angehaltene Uhren
Die EU-Eliten sind gespalten über zukünftige Reformen, und es bestehen Unstimmig-keiten in der Flüchtlingspolitik. Der französische Präsident Macron strebt eine "kontinentale Partnerschaft" mit Großbritannien an, als ein Verbündeter in der Verteidigungspolitik, ohne Details zu erläutern.
Und was bedeutet ein No-deal-Szenario? Für Barnier ist das der Status quo – der worin besteht? In einer fortdauernden Mitgliedschaft in der EU oder im ungeregelten Ausscheiden oder in einer Verlängerung der Verhandlungen mit London?
In der Vergangenheit hat die EU heikle Fragen bis zum Ende ausgeklammert. Es könnte also sein, dass die Details der drei schwierigen Themen bis zum Schluss geparkt werden – für Marathonsitzungen, die bei angehaltener Uhr die ganze Nacht dauern. Gelingt es nicht, eine Einigung zu erzielen, würde dies die diplomatische Fähigkeit der EU beschädigen – und zwar nicht nur auf europäischer, sondern auf globaler Ebene.
Denn man weiß, "wenn eine Scholle ins Meer gespült wird, wird Europa weniger… Darum verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt, sie schlägt euch selbst."
Dr. Melanie Sully, britische Politologin, ist Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance.
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