Documenta Blog 1: Vom Aufprall der Welten

Documenta Blog 1: Vom Aufprall der Welten
Kunstkenner aus aller Welt bevölkern dieser Tage Kassel. Das wirkt bisweilen skurril, passt aber gut zum Thema der Kunstschau.
Michael Huber

Michael Huber

Beschaulichkeit trifft Schaulust

Kassel ist ein Kaff, hatte man mir zugeraunt, bevor ich selbst in jene Stadt fuhr, die alle fünf Jahre für 100 Tage zur Welthauptstadt der Kunst ausgerufen wird. Tatsächlich braucht es die Normalität und die schrebergärtnerische Beschaulichkeit dieses Ortes aber, damit das Phänomen Documenta auch funktioniert: Wenn die Kunst hier einzieht, fällt auch eine Gegenwelt über die Normalität herein, dieses Jahr vielleicht noch mehr als sonst.

Besonders deutlich wäre der Aufprall der Welten wohl durch den Meteoriten "El Chaco" geworden, den die künstlerische Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev gerne aus Argentinien auf den Vorplatz des Museum Fridericianum, den Documenta-Hauptplatz also, geschafft hätte. Es kam nicht dazu, weil sich die lokale Bevölkerung in Argentinien dagegen wehrte.

Nur ein kleiner Raum im Fridericianum dokumentiert nun mit einigen Briefen und Videos die Auseinandersetzung, in der dem Kunstbetrieb u.a. eine Fortsetzung des Kolonialismus vorgeworfen wurde. Ganz dürfte der Konflikt noch nicht ausgeräumt sein, gab es doch bei der Documenta-Pressekonferenz am Mittwoch noch wütende Wortmeldungen.

Sternenstaub

Statt einem großen Brocken ist die Kunst nun also eher wie Sternenstaub in die Stadt gefallen. Manchmal, etwa im technischen Museum der Orangerie, mischt sie sich unter die ausgestellte astronomischen Geräte; im angeschlossenen Karlsaue-Park taucht sie in Form von kleinen Gartenhäuschen auf, die von Künstlern teils klassisch mit Zeichnungen und Videos, teils mit sozial engagierten Aktionen bespielt werden (dazu später mehr). 

Viel Verwirrung hatte Christov-Bakargiev schon im Vorfeld mit der Ankündigung erregt, dass sie eben nicht nur Kunst, sondern auch Exponate aus der Wissenschaft und anderen Disziplinen ausstellen würde. Wobei, so viel lässt sich nach einem ersten Rundgang sagen, diese Verschränkung der Disziplinen weniger revolutionär ausfällt, als es der Kuratorin vielleicht selbst lieb wäre. Schließlich wird der Kunstbegriff nicht erst seit gestern in alle Richtungen erweitert.

Vielseitig und offen

Bei all den intellektuellen Bocksprüngen, die eine Veranstaltung wie die Documenta nun mal mit sich bringt, geht es der Kuratorin im Kern wohl darum, ihre Besucher zum Einnehmen eines unsicheren, nach allen Richtungen offenen Betrachter-Standpunkts zu bewegen. Eine solche Offenheit hilft beim Kunstbetrachten ganz generell (ich denke hier auch an die sehr inspirierenden Schriften von Werner Hofmann, der mit dem Begriff "Polyfokalität"operiert); auf der Documenta wird diese Offenheit quasi zur Grundbedingung, um im Digitalzeitalter wissensmäßig zu überleben. Und auch Anton Zeilinger kommt hier ins Spiel.

Nachhilfe in Quantenmechanik

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Der österreichische Physiker hat mit einigen Doktoratsstudenten einen Saal an prominenter Stelle im Fridericianum bezogen, wo er fünf Versuchsanordnungen zu quantenmechanischen Phänomenen zeigt. "Was wir hier machen, sind physikalische Experimente, nicht irgendwelche verbilligten, verwässerten Sachen", sagt Zeilinger, als ich ihn bei der dicht besuchten Preview kurz ein paar Fragen stellen kann. Über den Konnex seiner Arbeit zur Kunst schweigt er sich aus, ihm geht  es allein um die Vermittlung seiner Arbeit: "Es ist eine Möglichkeit, mit Physik ein großes, sehr interessiertes Publikum zu erreichen."

Tatsächlich werden Zeilinger und seine Mitarbeiter von strebsamen Kunstkennern belagert, die sich um Physik-Nachhilfe anstellen. Irgendwann, zwischen "Quantenzufall", "Verschränkten Photonen", und "Wellen- und Teilchenmodellen" fällt ein Satz, den ich für die weiteren Documenta-Tage mitnehme: "Man braucht verschiedene Ansichten, um diese Effekte zu beschreiben."

Bocksprung zur Wurst

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Mit dieser Information geht es schließlich zum abendlichen Empfang, zu dem Künstler, Kuratoren, Journalisten in Scharen ins Rathaus einmarschieren: Dabei wandern sie durch ein Spalier von Trompetern und Trommlern einer örtlichen Blaskapelle, im Innenraum schwingt der Bürgermeister Reden, es gibt Bier und schier unerschöpfliche Mengen an Wurstbroten. Und wieder prallen die Welten zusammen.

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