Kurze Nächte im November

Stau in die Freiheit.
Josef Votzi

Josef Votzi

Wäre ich lieber vor Ort gewesen? Ja, sagt der Journalist...

von Josef Votzi

saß mit Neugeborenem vorm Fernseher

Die Nächte in den ersten Novembertagen 1989 waren kurz. Maximal vier Stunden Schlaf am Stück. Neues Leben da wie dort: Die Nacht des Mauerfalls, der "Geburt" des wiedervereinigten Deutschland, verbrachte ich mit einem Neugeborenen am Arm. Gebannt vor dem Bildschirm sitzend, nein eigentlich meist auf und abgehend, um die am 30. Oktober geborene Tochter Nora mit der neuen Umgebung zu versöhnen. Der Ton am TV-Gerät bleibt daher meist runtergedimmt.

Die dramatischen Bilder sprechen für sich: Die Menschen weinen beim erstmals gefahrlosen Überqueren der Mauergrenze. Die Soldaten stehen rat- und hilflos buchstäblich daneben. Wäre ich lieber vor Ort gewesen? Nein, sagt der Jung-Vater in mir, der bald danach drei Monate mit seiner Tochter als Karenzurlauber zubringen durfte und bis heute keinen Tag missen möchte.

Kurze Nächte im November

Ja, sagt der Journalist in mir. Berlin, auch den Osten, kannte ich von einigen Reisen: Den Zwangsumtausch von 25 D-Mark in Ostmark beim Grenzübertritt von West nach Ost. Die Not nach einem Tagesausflug, wofür den Rest verwenden. Die Anzahl der Bücher, die es wert war zu kaufen, war rasch erschöpft. Das ganze Geld für Essen auszugeben stieß an zumutbare Grenzen. Die streng geführten und streng riechenden Restaurants mit dem Charme von Nachkriegs-Kantinen luden nicht zum Verweilen ein. Die Speisekarten bestachen vor allem durch das reichhaltige Angebot an dem, was damals nonchalant „Sättigungsbeilage“ gerufen wurde: Kartoffel, Reis, Klöße…..

Die Mauer bröckelt, die alte DDR versinkt, keine Riesen-Plakate mehr an jeder Ecke „Verwirklicht die Beschlüsse des IX. Parteitages“? Keine Zeitungen mehr im „Arbeiter- und Bauern-Paradies“, die liebend gerne mit Schlagzeilen von der „Ernteschlacht“ aufmachen: „Unsere Ernte schnell und verlustarm auf den Tisch der Republik.“ Nie mehr Begegnungen mit emphatischen und freundlichen DDR-Bürgern, die beim Gespräch ständig nach mögliche Zuhörern am Nebentisch Ausschau halten. Keine Gespräche in Hotelzimmern mehr, die über Smalltalk hinausgehen - denn die Stasi hat ihre Augen und Ohren überall? Fragen über Fragen, die sich in dieser dramatischen Nacht stellen: Wird auch das alles mit dem Mauerfall endlich und für immer vorbei sein?

Ein paar hundert Kilometer Luftlinie von Wien wurde politisch Geschichte geschrieben, die uns auch 25 Jahre danach bewegt.

Auch die private Geschichte, die an diesem Tag mit gebannten Blicken auf den TV-Schirm Richtung Berlin, begann, endet quasi politisch: Tochter Nora, 25, wird zwei Tage vor dem 25jährigen Jubiläum des Mauerfalls in Oxford zum Master graduiert – im Fach Politik.

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