Ein Bach am Ende der Welt

Sie war allgegenwärtig, irgendwo versteckt hinter dem Fichtendickicht.

von Stefan Probst

über die Mauer der Angst

Ich war 14, als die Berliner Mauer fiel, und eigentlich völlig mit pubertären Problemen ausgelastet. Die Poster von Sophie Marceau, Kim Wilde und Madonna hatten an der Wand meines Zimmers einfach nicht gleichzeitig Platz, dabei hatte ich eh schon schweren Herzens die Belinda Carlisle ausgemustert. Und auch das Platzerl im CD-Player war heiß umkämpft. EAV und Die Ärzte hießen die Kontrahenten. Politik war "ur-uncool" und nichts für die "Chiefs", wie sich meine Clique damals nannte.

Doch um das Thema DDR kam niemand herum. Die Fernsehberichte über Ostdeutsche, die von schauderhaften Betontürmen aus erschossen wurden, weil sie auf die andere Seite wollten, bleiben mir ewig in Erinnerung.

Ein Bach am Ende der Welt

Die Mauer endete damals keineswegs in Deutschland. Sie verlief in verschiedenster Bauart quer durch Europa. Deshalb lag das kleine Waldviertler Dorf, in dem meine Mutter aufgewachsen war, am Ende der Welt. "Passts auf, dass' ned in die Böhmei (Anm.: Tschechoslowakei) kommts", hieß es, wenn mein Cousin und ich mit selbstgeschnitzten Pfeilen und Bögen in den Wald gingen. Geschichten von Schwammerlsuchern, die versehentlich den eisernen Vorhang durchschritten haben und tagelang festgehalten wurden, geisterten durch unsere Köpfe. Und dann gab es da noch eine weitere "Rural Legend" aus einem Nachbarort (der nie genannt wurde): Ein Waldviertler Bauer sei beim Reversieren mit dem Hinterreifen des Traktors ins Niemandsland geraten. Daraufhin seien die – offenbar hinter jedem Busch lauernden – Tschechen herbeigesprungen und hätten ihn vom Fahrersitz "owazaht" (Anm.: runtergezerrt). Danach sei er mit den eigenen Hosenträgern an einen Baum gefesselt worden.

Sie war für mich allgegenwärtig, diese unsichtbare Mauer, irgendwo versteckt hinter dem Fichtendickicht. Nur einmal habe ich rübergeschaut: In einem verlassenen Nachbarort, dessen einzige Straße mitten im Wald endet. Eine verfallene Schule galt es dort zu erforschen und ein altes Herrenhaus mit schimmeligen Böden. Vom Sägewerk war kaum noch etwas zu erkennen. Am Ende der Welt gibt es halt keine Jobs. Ein kleiner Bach markierte hier die Grenze zum Niemandsland. "Traust dich da drüber gehen?", fragte mich ein Spielkamerad und deutete auf ein Stück behauenen Fels, der wohl irgendwann mal als Brücke gedient hatte. Ein kleiner Schritt wäre es gewesen. Ich musterte die grüne Wand aus Blättern und Unkraut. Saß dort irgendwo ein Soldat und lauerte auf eine falsche Bewegung? Ich habe es nie herausgefunden.

Erst viele Jahre später überquerte ich die tschechische Grenze – zum Kaufen von Zigaretten und Becherovka. Die Mauer war damals längst zerbröselt. Die Bilder von weinenden Menschen, die einander in Berlin in die Arme fielen, werde ich aber nie vergessen. Sie konnten es offenbar nicht ganz glauben, dass sie an diesem 9. November niemand an ihrem kleinen Schritt gehindert hat.

Seitdem hat sich vieles gründlich verändert – auch mein Musikgeschmack. Nur Sophie Marceau find ich immer noch urcool.

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