Gestohlene Zukunft

Gestohlene Zukunft
Kinder und Jugendliche in Heimen wurden vielfach physisch und psychisch gebrochen. Auch die finanzielle Zukunft wurde ihnen geraubt.
Georg Hönigsberger

Georg Hönigsberger

Langsam lichten sich die Nebel. Der Blick auf die Erziehungsmethoden österreichischer Kinderheime - von der Nachkriegszeit bis hinauf in die 1980er-Jahre - wird immer klarer. Neu ist die finanzielle Dimension, die sich auftut.

In der Erziehungsanstalt für jugendliche Mädchen in St. Martin (Schwaz in Tirol) wurde die Arbeitskraft der 15- bis 18-Jährigen schamlos ausgenutzt. Aussagen und Dokumente belegen, dass das Heim zumindest von den 1960er-Jahren bis in die `80er-Jahre Aufträge von Unternehmen angenommen hat. Wäsche im Akkord waschen und bügeln, Kristallbänder anfertigen, Lampenschirme herstellen sind nur einige der Tätigkeiten, die die Mädchen ausgeführt haben. Wie Erlagscheine beweisen, wurde dafür Lohn überwiesen. Direkt ans Heim. Die Mädchen, die teils harte Arbeit leisteten, sollen durch die Finger geschaut haben.

Allein ein Monatslohn für ein Heimkind betrug im Jahr 1980 mehr als 7000 Schilling. Damals waren rund 50 Mädchen in St. Martin untergebracht. Die meisten arbeiteten auf Geheiß der Heimleitung, nur vier waren damals in einer Lehre in Ausbildung. Das wird auch in einer Vorstudie zur Heimerziehung scharf kritisiert: Das Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz habe damals schon eine für ihr "zukünftiges Fortkommen dienliche Berufsausbildung" verlangt, die den Mädchen in dem Heim des Landes Tirol "so gut wie nie ermöglicht" worden sei.

Nicht versichert

Der Lohn ist den Mädchen von der Heimleitung offenbar größtenteils vorenthalten worden. Eine geeignete Ausbildung wurde ihnen verwehrt und zu allem Überfluss gibt es noch einen Punkt, der sich heute noch finanziell auf die ehemaligen Heimkinder auswirkt: Sie waren weder kranken- noch pensionsversichert. Das bedeutet, dass ihnen auch noch Pensionsjahre gestohlen worden sind. Die Heimleitung rechtfertigte sich 1980 damit, dass es sich um Arbeitstherapie und nicht um ein Arbeitsverhältnis gehandelt habe.

Jetzt ist die Zeit gekommen, die haarsträubenden Zustände aufzuarbeiten. Die Politik kann sich nicht mehr hinter Aussagen wie "im Einzelfall prüfen" verstecken. Misshandlungen, sexueller Missbrauch, Erniedrigung und offenbar auch finanzielle Ausbeutung sind keine Einzelfälle, sondern systemimmanent. Die totalen Systeme in Erziehungsanstalten und das vollkommene Versagen der Aufsichtsorgane (egal ob in Tirol, in Wien oder beim Bund) haben Tausenden ehemaligen Heimkindern das Leben zur Hölle gemacht. Vielen von ihnen geht es heute noch dreckig. Die Politik muss endlich zu ihrer Verantwortung stehen und darf nicht glauben, dass das Thema mit Entschädigungszahlungen für die Betroffenen beendet ist.

Und die Tiroler Landesregierung muss alle Karten auf den Tisch legen: Wer hat das Geld, das sich die Mädchen hart verdient haben, einkassiert?

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