Warum Linz näher ist als Bratislava
Die menschliche Erfahrung von Distanz ist höchst individuell. Ob eine Strecke als Klacks oder als Zumutung eingestuft wird, wird von vielen Faktoren bestimmt. Amerikaner sind beispielsweise unterrepräsentiert, wenn es um den Besitz von Reisepässen geht – ihre Bereitschaft zur Mobilität innerhalb der USA ist legendär. Skandinavier fahren oft 200 Kilometer, nur um in die Disco zu gehen. Wiener raunzen, wenn sie beruflich einen Tag nach Salzburg müssen. Linz geht gerade noch.
Entscheidend ist dabei weniger die Mentalität einer Nation als ihre Besiedlungsdichte. Wo alle paar hundert Kilometer eine Stadt steht, steigt die Bereitschaft, größere Distanzen zurückzulegen, wodurch sich die amerikanische Pendelfreudigkeit erklärt. Auch die österreichische – geradezu absurde – Ehrfurcht vor Nationalgrenzen dehnt Distanzen überproportional: Die Strecke Wien-Bratislava misst 79 Kilometer, jene erwähnte zwischen Wien und Linz immerhin 187. Die „kognitive Landkarte“ rückt Bratislava dennoch weiter weg. Das ist ja Ausland.
Eiserner Vorhang
In Deutschland macht die Vorstellungskraft so manchem Pendler einen Strich durch die Kilometerrechnung. Fast 25 Jahre nach dem Mauerfall existiert der Eiserne Vorhang im Kopf, Wegzeiten in den ehemaligen „Osten“ werden von „Wessis“ massiv überschätzt. Wobei auch die politische Einstellung eine Rolle spielt: Deutsche, die positive Gefühle gegenüber der Wiedervereinigung hegen, verschätzen sich weniger stark als Gegner. Studien weisen das als durchwegs internationales Phänomen aus: Nationen, die uns sympathisch sind, werden auch geografisch als näher wahrgenommen als „unsympathische Länder“.
Interessant ist, dass die Welt zwar – Twitter und Skype sei Dank – enger zusammenrückt, unser Empfinden für physische Distanzen sich durch neue Medien aber kaum ändert. Sobald der Chat mit der Freundin in Rom beendet, der Computer abgedreht ist, bleibt die kognitive Repräsentation der Stecke nach Rom immer noch weit.
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