Tischgespräche: Dieses Mal mit Robert Menasse

Tischgespräche: Dieses Mal mit Robert Menasse
Gespräche bei Tisch. Gemeinsam essen und trinken ist laut Statistik eine aussterbende Art, Zeit miteinander zu verbringen. Angelika und Michael Horowitz haben 20 befreundete Künstler um diese Zeit gebeten.

freizeit-KURIER-Chefredakteur Michael Horowitz und seine Frau Angelika luden 20 befreundete Künstler zu intensiven Gesprächen ein. Bei einem Essen, in einem Wirtshaus, in einer Atmosphäre, bei der sie sich wohlfühlten. Festgehalten wurden die "Tischgespräche" im gleichnamigen Buch. Lesen Sie in den folgenden 20 Tagen was Alfred Dorfer, Christiane Hörbiger und viele mehr bewegt. Dieses Mal zu Gast: Schriftsteller Robert Menasse.

"Kunst entsteht nicht in Fabrikarbeit"


Robert Menasse hat den kritischen Blick von außen auf seine Geburtsstadt Wien, die seine Heimat ist und die er liebt, nie verloren. Mit feiner Feder und scharfer Zunge nimmt der Schriftsteller stets offen und ehrlich Stellung: "Ich bin kein ständig im Wiener Sud Schwimmender, sondern einer jener glücklichen Wiener, die es sich aussuchen konnten und können, wann sie gehen und wann sie kommen."

Michael Horowitz: Du hast dir das "Vestibül" als Treffpunkt ausgesucht. Warum?

Robert Menasse: Das "Vestibül" ist sozusagen eine Verdichtung des Wesens von Wien insgesamt: Wien ist ja eine theaterverrückte Stadt, und hier in diesem Lokal ist dieser Sachverhalt sowohl Geschäfts-, als auch Genussgrundlage. Das Burgtheater ist die Kulisse, der Gastraum eine Bühne für die eigenen Lebensäußerungen, Gespräche, Diskussionen, Streit, Emotionen und Stärkungen.

Nach einem Besuch im Burgtheater ist es wunderbar, gleich anschließend hier zu essen und dem Gesumse und Geschnatter der Theatergäste, den produktiven Irrtümern und biestigen Hellsichtigkeiten der Zuschauer zu lauschen. Und das bei erstklassiger Küche und besten Weinen. Aber auch zu Mittag komme ich manchmal gerne hierher, wenn Regierungsmitglieder, Beamte, Lobbyisten und Geschäftsleute beim Mittagsmenü ihre Besprechungen haben – buchstäbliches Staatstheater!
Und dabei gelingt es dem "Vestibül"-Team, jedem Gast das Gefühl zu geben, im besten Sinn des Wortes Gast zu sein. Und das unabhängig davon, was und wer er ist.


Wie würdest du denn einem Fremden, der Wien nicht kennt, die Stadt, diese seltsam schöne, gegensätzliche, beschreiben?
Wer Wien nicht kennt, dem empfehle ich: Genieße deine erste Zeit, denn je weniger du verstehst, umso schöner ist die Stadt.


Und wenn er dann schon eingetaucht ist, wovor würdest du ihn warnen?
Ich würde ihn davor warnen, die sozialen Codes dieser Stadt zu imitieren, denn es wird ihm nie gelingen. Es wird ihm besser gehen, wenn er seine Unschuld behält und dieses Wiener Theaterspiel gar nicht mitzuspielen versucht, nämlich nie das zu sagen, was man meint, sondern sogar eher das Gegenteil, während das Gemeinte durch Mimik, Tonfall und Inszenierung ausgedrückt wird – das sind Mechanismen, die kann man, wenn man hier nicht aufgewachsen ist, nie lernen.


Aber du lebst in dieser Stadt – wenn auch mit langen Unterbrechungen – doch auch gerne, nehme ich an, sonst würdest du heute nicht hier sitzen. Was sind die Vorteile, in dieser Stadt zu leben, was ist deren vielzitierte Lebensqualität?

Es gibt eine Lebensqualität, die völlig unabhängig ist von den Kriterien, mit denen man in Rankings die Lebensqualität von Städten beschreibt. Und das ist die Lebensqualität, die ein Ort allein dadurch hat, dass er der Geburtsort ist. Ich bin in Wien geboren und aufgewachsen, Wien ist meine Heimat, und das ist eine Qualität, die kein anderer Ort bieten kann: dass man weiß, von hier zu sein, ein Produkt und auch Produzent dieses Ortes.
Dazu gehört unter anderem, dass man da, wo man aufgewachsen ist, die Mechanismen besser versteht und eine unersetzbare sentimentale Beziehung hat zu den Gerüchen, Tonfällen, zu den Fassaden, auch zu denen, die nicht für Tourismusprospekte brauchbar sind. Das gilt auch für alles, was mich stört und mir auf die Nerven geht. Es bleibt in diesem Sinn einzigartig: Nichts auf der Welt kann mir so, also auf diese Weise, auf die Nerven gehen, wie mir manches in Wien auf die Nerven geht. Und ich beanspruche hier auch mein Recht auf Heimat. Heimat ist ein Menschenrecht. Man darf sich Heimat durch nichts nehmen lassen.
Ich habe immer gerne in Wien gelebt und bin immer wieder zurück nach Wien gekommen, obwohl ich den Großteil meines Erwachsenenlebens im Ausland verbracht habe. Das heißt, ich bin kein ständig im Wiener Sud Schwimmender, sondern einer jener glücklichen Wiener, die es sich aussuchen konnten und können.

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Das würden sich viele Menschen, die hier leben, sicherlich wünschen.
Vielleicht. Diese Erfahrung bedeutet aber auch, dass ich als Wiener in Opposition zu vielen Menschen und vielen Phänomenen in Wien stehe. Es gibt ja leider sehr viele Wiener, die anderen das Recht absprechen möchten, sich aussuchen zu dürfen, wo und wie sie leben. Sie sind stolz auf ihre Stadt und leben hier glücklich – aber sie wollen anderen dieses Glück nicht gönnen. Das ist seltsam. Was diese Wiener nämlich vergessen haben, ist, dass Wien eine interessante Gemeinsamkeit mit New York oder São Paulo hat …


Welche?

Wien ist eine der wenigen Metropolen, die ihren Reichtum, ihre Pracht und ihren Flair der Tatsache verdanken, dass sie einmal dieses Angebot hatten, für viele Menschen aus verschiedenen Ländern Heimat werden zu können. Und wenn ich heute sehe, wie diese Promenadenmischung, die „der Wiener“ letztlich ist, "reinrassig" sein will, dann bekomme ich Wut. Aber das gehört auch dazu, wenn man eine Stadt liebt, nämlich dass sie solche Emotionen auslöst – dass man manchmal mit ihr kämpft und sich gleichzeitig mit ihr so verkrallt, dass es einer Liebesverschmelzung gleichkommt.

Apropos Liebesverschmelzung, fühlst du dich von dieser Stadt zurückgeliebt?

Ich habe, und das sage ich mit gebotener Ironie, mit dem "Goldenen Verdienstzeichen" von Wien eine Auszeichnung bekommen, die nicht mit Geld, sondern mit einem "Ehrengrab" dotiert ist. Mit dieser „Goldpletschn“ hat man das Recht auf ein Ehrengrab. Ist das nicht witzig? Das ist bei einer Stadt, die das Morbide, den Tod, ihre toten Künstler liebt, wie keine andere, der wohl größte Liebesbeweis. Ich hoffe aber trotzdem, dass mit dieser Auszeichnung nicht gemeint war, ich solle möglichst schnell den Löffel abgeben.


Gemäß dem Wiener Motto: toter Dichter – guter Dichter?
Genau.


Aber es doch sicherlich so: Je ferner man Wien ist, desto besser durchschaut man die Stadt, oder?
Natürlich. Auch mir geht es so, dass die Gewohnheit nach einer gewissen Zeit wieder beginnt, ihre Macht auszuüben …


Ah, herrlich, jetzt kommt das Steak. Mit einem Kartoffelchip, der an ein künstlerisches Artwork erinnert.
Ja, diese in eine Kartoffelscheibe hineingedruckte Petersilie gleicht einer Fliege in Bernstein, oder wie sagt man? Einem Palimpsest?


Wie bitte? Würdest du dich als sehr gebildet bezeichnen?

Ich bin nicht gebildet, ich bin interessiert …


… das geht gerne Hand in Hand …

Aber ich habe den Fehler begangen, bereitwillig das Missverständnis zu bedienen, ich sei gebildet.

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Wieso ist das ein Fehler?
Ein gebildeter Mensch gilt in dieser Stadt sehr schnell als eingebildet.


Ist Wien für einen Künstler ein kreativer Nährboden oder lädt das Chaos einer Stadt wie beispielsweise São Paulo, wo du ja lange gelebt hast, eher ein, Neues zu schaffen?

Dazu muss ich – so nebenbei – das Missverständnis ausräumen, dass Brasilien beziehungsweise São Paulo chaotisch wären. Viele Wiener werden es sich vielleicht nicht vorstellen können, aber São Paulo ist eine bestens verwaltete Stadt, ich möchte fast sagen, besser oder zumindest bewundernswerter verwaltet als Wien. Ein Wiener glaubt ja, dass Wien so toll verwaltet ist, weil die Müllabfuhr funktioniert und die U-Bahn fährt. Aber die Müllabfuhr funktioniert auch in São Paulo bestens, was aber in einer 20-Millionen-Metropole ungleich schwieriger ist. Und die Busse fahren alle 20 Sekunden – einer nach dem anderen.


Und die Bedingungen für einen Künstler?

Fest steht, man strampelt so oder so. Jede Großstadt ist ein Anziehungspunkt für Künstler. Künstler streben grundsätzlich in Zentren. Wer in Villach sitzt, will nach Wien. Um im Zentrum zu überleben und sich durchzusetzen, muss man strampeln. In Wien kommt zum grundsätzlichen Strampeln aber noch dazu, dass es in engen Strukturen stattfindet. Man kann in Wien eigentlich nicht berühmt werden, weil ohnehin jeder jeden kennt. Da kommt dann leicht diese Stimmung auf: Was will er denn? Wer glaubt er, dass er ist?
Es ist sicherlich in New York einfacher, radikal seinen Weg zu gehen, mit einer kühnen Idee Neugier zu wecken, statt Ressentiment. Auch in Paris ist es eher möglich, einen nicht unbedingt kompatiblen Lebensentwurf zu haben und zu leben, als in Wien. Aber ich muss gerechterweise sagen, dass seit den siebziger Jahren – und dann später seit Ursula Pasterk als Kulturstadträtin – trotz aller Regulierungen und enger Korsetts auch hier manches möglich wurde. Es ist möglich geworden, all das Enge abzuschütteln und etwas Großes, Kühnes zu machen.


Du bist teilweise im zweiten Bezirk, in der Schiffamtsgasse, aufgewachsen. Eine Gegend, die heute im Gegensatz zu deiner Jugend sehr schick und angesagt ist. Jetzt bist wieder dorthin gezogen. Warum? Ich nehme an, nicht deshalb, weil du gerne unter hippen Menschen bist. Kehrst du zu deinen Wurzeln zurück?

Wir haben lange im vierten Bezirk gelebt, aber es war nicht wirklich eine Gegend, in der sich meine Frau und ich sehr wohl gefühlt haben. Nachdem jetzt unsere Tochter ausgezogen ist, hatten wir ein Zimmer mehr, wollten aber eigentlich stattdessen lieber eine Terrasse. Meine Frau hat gesucht, ich hätte keine Geduld dafür gehabt, und sie hat zufällig unsere ideale Wohnung in meinem Kindheitsviertel gefunden.
So sind wir in den zweiten Bezirk gekommen, und ich schau jetzt über die Dächer Wiens. Ich muss gestehen, dass mir das ungemein gefällt – genau dort, wo tief meine Herkunftswurzel steckt, den Überblick über die ganze Stadt zu haben. Als ich nach Jahrzehnten wieder durch diesen Bezirk ging, hatte ich an jeder Ecke Kindheitserinnerungen.


Welche?

Ich freu mich beispielsweise, dass der Karmelitermarkt viel mehr der geblieben ist, der er war – anders als der Naschmarkt. Natürlich sind mir sofort Erinnerungen an meine Großmutter Dolly gekommen, die ich so oft auf den Karmelitermarkt begleitet habe.
Dann bin ich um eine Ecke gebogen und konnte mich erinnern an ein Haus, an dessen Tor früher ein Löwenkopf war. Diesen Löwen, der mich als Kind sehr angezogen hat, wollte ich wiederfinden. Aber er war nicht mehr da. Bis ich draufkam, dass er doch noch dort war und sich nur meine körperliche Größe verändert hatte. In Hüfthöhe fand ich ihn wieder – auf Augenhöhe eines kleinen Kindes. Das hat mich sehr berührt.

 

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Eine schöne Geschichte …
Und während meiner ersten Rundgänge im zweiten Bezirk habe ich auch das Haus meiner Großeltern aufgesucht. Ich las die Namen an der Gegensprechanlage, um zu erfahren, wer denn nun in deren Wohnung lebt. Da das Haustor offen war, ging ich hinein und hinauf in den zweiten Stock. Dort, wo meine Großeltern gewohnt hatten, läutete ich an. Einfach so, ich wollte wissen, wer jetzt dort wohnt, und dachte, vielleicht darf ich mich, wenn ich mich erkläre, kurz umschauen.
Auf dem Türschild stand: "Praxis Mag. Sowieso, Energieströme, Energiebelebungen etc. Lernen Sie die Energie Ihrer Kindheit neu zu spüren. Termin nach Vereinbarung." Und das in der Wohnung meiner Kindheit.


Eigentlich der Beginn eines Romans.
Ja, es war allerdings niemand da. Aber es war auch besser, dieses Schild an der Tür gelesen zu haben, als tatsächlich hineingegangen zu sein.


Hast du noch eine andere Erinnerung an deine Oma Dolly?
Ja, ich erinnere mich an einen Obst- und Gemüsestand am Karmelitermarkt. Dort, wo ich auch heute wieder einkaufe. Es war mir immer peinlich, mit meiner Oma dorthin zu gehen, denn sie hatte einen Tick. Sie wollte jeden Tag mit frischen Produkten kochen und hat daher nur in ganz kleinen Mengen eingekauft. Wir hatten damals noch keinen Kühlschrank. Die Auseinandersetzungen mit dem Obst- und Gemüsehändler waren mir immer unglaublich peinlich.
Ich erinnere mich, eines Tages hat sie Spinat gekauft, aber es waren wieder einmal nur ein paar Blätter, die sie aus dem Steigerl herausgezupft hat. Da hat er in seiner großen Verzweiflung gesagt: "Frau Menasse, sie müssen zumindest so viel nehmen, dass die Waage ausschlägt."


Du solltest ein Buch über die Leopoldstadt schreiben.
Ich habe den Karmelitermarkt ja bereits in dem Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“ beschrieben und dabei einiges an Kindheitserinnerungen verarbeitet. Wahrscheinlich bleibt es dabei – wir werden ja sehen. Ich finde den zweiten Bezirk wunderbar lebendig, er hat genau diese Mischung, die mich immer fasziniert – nämlich gleichzeitig Dörfliches und Urbanes.


Wie entstehen deine Bücher? Wie würdest du das einem Laien erklären? Setzt du dich wie ein Beamter an den Schreibtisch? Gibt es ein Korsett für deinen Schreiballtag?
Das ist von Schriftsteller zu Schriftsteller sehr verschieden. Manche setzen sich in der Früh an den Schreibtisch und beginnen zu schreiben.
Thomas Mann ist das berühmteste Beispiel für gleichsam beamtetes Schreiben. Er hat ja seine literarischen Ansprüche und schließlich seinen Ruhm wirklich als Amt verstanden. Er war sozusagen der geniale Sektionschef der Literatur. Er hatte ein Schild an der Tür seines Arbeitszimmers, worauf stand: "Zwischen 13.30–18 Uhr nicht stören, da dichte ich." Bei ihm war jeder Tag exakt eingeteilt.


Aber so bist du nicht?
Nein. Ich arbeite immer nur am Nachmittag. Der Vormittag und auch die Mittagszeit sind jene Zeiten, in denen ich mich konditioniere, damit ich um zwei Uhr endlich mit dem Schreiben beginnen kann.

Was meinst du damit?
Konditionierung im Sinne von Selbstüberredung, das Verbot, den Schreibtisch großräumig zu umgehen, und Ähnliches. Ich habe seltsamerweise gelernt, mich vor dem Schreiben zu fürchten. Solange ich tagträume und phantasiere, mir etwas ausdenke und überlege, ist alles perfekt und ich bin jeder Kritik enthoben. Wenn ich aber zu schreiben beginne, dann setzt schon die Kritik ein. Zunächst als Selbstkritik. Das beschriebene Papier hält der Schönheit der Phantasie allzu oft und allzu lang nicht stand. Und wenn ich veröffentliche, bin ich der Kritik von außen ausgesetzt. Dann wird an einem Nachmittag in schlampigen Sätzen ein Urteil über ein Buch gefällt, an dem ich drei oder fünf Jahre gearbeitet habe.
Außerdem kann ich nicht zu schreiben beginnen, wenn ich nicht schon den ersten Satz weiß, bevor ich mich an den Schreibtisch setze. Wenn ich mich hinsetze und noch keinen ersten Satz im Kopf habe, stehe ich wieder auf. Daher beginne ich bereits ein, zwei Stunden vorher herumzugehen und an den ersten Satz zu denken. Und irgendwann taucht er als Möglichkeit auf … Und dann schreibe ich, je nachdem, wie ich vorankomme und wie groß die Widerstände sind.


Wenn dieser erste Satz da ist, fließen dann die anderen nach oder ist jeder Satz durchdacht?
Wenn ich mit einem Buch beginne, habe ich ein Konzept.

Das heißt, du weißt bereits am Anfang, wie die Geschichte enden wird?
Ja. Ich fange erst zu schreiben an, wenn ich das Buch aufgezeichnet habe, so wie ein Architekt das Haus, das dann erst gebaut wird.


Ist Disziplin dabei sehr wichtig?

Ja. Aber nicht alles. In der Kunst darf man keinen Fetisch draus machen. Ist ein Künstler, der besessen arbeitet, diszipliniert? Nein, er ist besessen. Ist ein Künstler, der Stunden, Tage, Wochen träumend nichts tut, undiszipliniert? Nein, er ist ein Träumer. Disziplin ist ein Begriff des Taylorismus, "Fabrikdisziplin" – aber Kunst entsteht nicht in Fabrikarbeit.


Denkst du beim Schreiben an den Leser oder den Rezensenten?

Wenn ich schreibe, möchte ich ein Buch schreiben, das für mich stimmt. Ich möchte sagen können: "Das ist es, was ich kann, ich kann’s nicht besser, aber ich habe mein Bestes gegeben." Und dann will ich die Liebe der Leser.


Bist du mit deinem Selbsturteil sehr kritisch?

Ja, ich bin sehr selbstkritisch und habe sehr viele Skrupel – und je älter ich werde, desto stärker werden die Skrupel. Vor zehn, 15 Jahren habe ich wesentlich leichtfertiger geschrieben als jetzt.


Skrupel welcher Art?
Eine grundsätzliche Hochachtung vor einem gelungenen Werk. Es gibt immer eine demütigende Diskrepanz zwischen dem Traum und dem, was danach schwarz auf weiß gedruckt steht. Es darf keine Zumutung für die Menschen sein, die ich damit behellige. Das geschriebene Wort sollte nichts leichtfertig Hingeworfenes sein.

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An wen denkst du, während du schreibst?
Lass mich diese Frage ein wenig kokett beantworten. Ich habe ab und zu den Gedanken, dass es mir gefallen beziehungsweise mir die Vorstellung schmeicheln würde, wenn meine Enkelkinder und Urenkelkinder, das heißt, allgemein gesprochen, kommende Generationen, mich und unsere Zeit dank meiner Bücher verstehen könnten. Die Probleme, die wir hatten, und wie wir versucht haben diese zu lösen. Ich habe erst sehr spät begonnen, die gesamte Dramatik der Biografien unserer Großeltern zu begreifen.

Dein Vater ist die Wiener Fußballlegende Hans Menasse. Er wollte doch sicherlich, dass aus seinem Sohn einmal ein Kicker wird?

Mein Vater hat sich immer schwergetan, Kinder – und auch mich – zu verstehen. Wenn er aber ein Kind sieht, das mit einem Ball umgehen kann, empfindet er tiefstes Verständnis. Aber dieses Talent habe ich nicht geerbt.

Was ist der Unterschied zwischen Literatur und Fußball?
Jener zwischen einem Rechtsaußen im Fußball und einem Linksaußen in der Literatur ist ja evident. Obwohl ich in der Schulmannschaft für die Mittelschulmeisterschaften als Tormann aufgestellt war, hat der damalige Trainer beim WAC – da sieht man, welche Idioten damals auf die Jugend losgelassen wurden – gemeint: „Menasse, rechts außen.“ Nur weil mein Vater damals ein berühmter Rechtsaußen war. Dabei war der bisherige Rechtsaußen der Einzige in unserer Mannschaft, der wirklich kicken konnte. Die ganze Mannschaft hat mich dafür gehasst, dass ich dem besten Mann diese Position weggenommen habe, und ich wurde damit bestraft, dass mir nie ein Ball zugespielt wurde.

Stattdessen hast du begonnen, Gedichte zu schreiben …
Ja, Gedichte und kurze Erzählungen. Das waren meine Anfänge mit 17.

Wusstest du sofort, dass das Schreiben deine Welt ist?
Ja.

Welche Gedichte hast du geschrieben? Liebesgedichte?
Natürlich. Im Grunde beginnt jeder Mensch, der noch keine Erfahrung hat, mit Liebesgedichten. Um Schreiben zu können, braucht man Lebenserfahrung. Nur in Ausnahmefällen kann eine überbordende Phantasie Lebenserfahrung völlig ersetzen. Kafka war zum Beispiel solch eine Ausnahme.
Wenn man keine Lebenserfahrung hat, glaubt man, zumindest eine sensationelle Erfahrung bereits gemacht zu haben – jene der Liebe. Unerfüllt, unsicher, unglücklich, aber immerhin: Die erste Sensation, von der einigermaßen behütet oder sicher aufwachsende junge Menschen glauben, sie sei nicht trivial. Daher beginnt man in der Regel mit Liebesgedichten.

Wer war deine erste große Liebe?
Ich war ein einziges Mal in meinem Leben auf diese entsetzliche Weise verliebt, bei der man glaubt, ohne diesen Menschen nicht leben zu können, bei der man überzeugt ist, dass das Leben keinen Sinn mehr hat, wenn dieser Mensch nicht ewig an deiner Seite bleibt. Das ist Liebe im neurotischen Sinn.

Wie alt warst du damals?
21, und das Mädchen hieß Maria. Ich glaube, dass ich seit dieser Zeit der unglücklichen Liebe von zwei schweren Krankheiten geheilt bin: der possessiven Liebe und der Eifersucht.

Gibt es eine andere Eigenschaft, die du nicht haben möchtest?
Sehr spontan fällt mir dazu Egozentrik ein. Künstlern wird ja immer unterstellt, egozentrisch zu sein. Ich halte Egozentrik allerdings für eine sozial gemeingefährliche Krankheit. Wenn sich aus dem Kind der Erwachsene herausschält, dann geschieht das auf der Basis einer natürlichen Egozentrik.
Künstler hingegen haben oft den Wunsch – ich natürlich auch –, nie wirklich erwachsen zu werden, weil das Insistieren auf einer gewissen Kindhaftigkeit die einzige Möglichkeit ist, sich vieles im Leben offen zu halten. Erwachsene müssen Entscheidungen treffen und schließen damit alle anderen Möglichkeiten aus. Wenn ich mich entscheide, Arzt zu werden, kann ich nicht gleichzeitig Rechtsanwalt werden. Ein Romancier aber kann schreibend einmal Rechtsanwalt, dann Arzt, dann kritischer Kritiker sein. Da schließt sich nichts aus. Viele Künstler nehmen auf diesem Weg, sich nicht entscheiden zu müssen, die Egozentrik des Kindes mit.
Mir wurde jedoch früh klar, dass dies ein soziales Problem produziert, das unproduktiv und unfruchtbar ist. Ich glaube, dass der wirklich große Künstler derjenige ist, der nicht auf seinen Nabel schaut, sondern auf die Welt, und dabei in seinem Sonnengeflecht, um den Nabel herum, etwas spürt. Aber der Blick muss auf die Welt gerichtet sein. Als ich meinen ersten Roman "Kopfwehmut" geschrieben habe …

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… deinen unvollendeten?
Vollendet ist er schon, aber nicht veröffentlicht.


Warum nicht?
Weil mir irgendwann klar wurde, beziehungsweise mir auch dank einiger guter Freunde und Vertrauter klargemacht wurde, wie egozentrisch dieser Roman ist. Dieser Roman war mein Gesellenstück. Und ein Gesellenstück wird in der Regel nicht verkauft. Aber es war schmerzhaft für mich, diesen Widerspruch austragen zu müssen. Ich wollte so gerne Erfolg haben in der Welt – habe aber dabei vergessen, auf die Welt hinzuschauen. Ich wollte einen Panoramaroman schreiben – wie Balzac, Dostojewski oder Doderer. Wien in den siebziger Jahren. Freunde haben mich jedoch darauf hingewiesen, dass das nicht Wien ist, was ich beschreibe, sondern es vielmehr um meine Probleme in meiner Studentenzeit geht.


Nimmst du auch Einwände von außen – wenn sie nicht von Freunden kommen – immer Ernst?

Na ja, ich schaue schon immer wieder, ob ich von kritischen Einwänden etwas lernen kann. Fest steht aber, dass man einem Menschen, der Ressentiments gegenüber Künstlern und Intellektuellen hat, den Sinn künstlerischer Arbeit nicht erklären kann, ja nicht einmal die Notwendigkeit des Nachdenkens. Ich nehme das nicht persönlich, weil es ein gesellschaftliches Problem ist: In diesem Land mit seiner alternativlosen Boulevardpresse, der seit 30 Jahren blockierten Bildungsreform und den kaputtgesparten Universitäten wird das Ressentiment der Verlierer und Betrogenen als "Meinung" hofiert – das heißt, sie werden da gleich noch einmal betrogen.
In der Kunst geht es nicht um Meinung. Eine Meinung ist mein, und die kann ich genauso gut für mich behalten. Kunst ist daher in radikalem Widerspruch zu einer Politik, die heute auf der Basis von Meinungsumfragen gemacht wird, und in Widerspruch zu den so genannten "Meinungsmachern" des Boulevards, und auch in Widerspruch zu den Kampfpostern und Leserbriefschreibern, die herrisch die Meinung der Herren teilen. Drum interessieren mich zum Beispiel die Audi-Max-Besetzer mehr als das ressentimentgeladene institutionalisierte Gekeife dessen, was bei uns "Öffentlichkeit" genannt wird, aber nur ein "veröffentlichter Stammtisch" ist.


Na dann, Prost. Wir danken dir für dieses wunderbare Gespräch.

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