Tischgespräche: Dieses Mal mit Gerhard Roth

Tischgespräche: Dieses Mal mit Gerhard Roth
Gespräche bei Tisch. Gemeinsam essen und trinken ist laut Statistik eine aussterbende Art, Zeit miteinander zu verbringen. Angelika und Michael Horowitz haben 20 befreundete Künstler um diese Zeit gebeten.

freizeit-KURIER-Chefredakteur Michael Horowitz und seine Frau Angelika luden 20 befreundete Künstler zu intensiven Gesprächen ein. Bei einem Essen, in einem Wirtshaus, in einer Atmosphäre, bei der sie sich wohlfühlten. Festgehalten wurden die "Tischgespräche" im gleichnamigen Buch. Lesen Sie in den folgenden 20 Tagen was Alfred Dorfer, Christiane Hörbiger und viele mehr bewegt. Dieses Mal zu Gast: Literat Gerhard Roth.

"Es gibt kein Paradies ohne die Hölle"

Gerhard Roth zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Literaten der Gegenwart und hat inmitten der südsteirischen Weinberge einen wunderbar stillen Ort der Einkehr gefunden, um dort – unter einem Nussbaum – Weltliteratur zu Papier zu bringen. Dabei liebt er Wasser über alles, "aber in dieser Landschaft bilde ich mir ein, die Hügel wären erstarrte Wellen und die Häuser sitzen darauf wie Schiffe. Dank dieser Vorstellung habe ich hier schon viele Seefahrten unternommen."

Michael Horowitz: Du hast dir eine sehr versteckte Oase für unser Gespräch ausgewählt. Wo sind wir hier?
Gerhard Roth: In die Buschenschank Menhard in der Nähe von Leutschach, mitten in den Weinbergen. Knapp davor sind noch die typischen steirischen Buschenschanken, voll mit Bussen und Touristenmassen, und ein paar Kurven weiter, beim Menhard, kann man all dem wieder entfliehen. Hier sind wir in die Welt des Trinkens, im Inferno und Paradiso.

Die sich dir abwechselnd – einmal so, einmal so – darstellt?

Wenn ich zu viel getrunken habe, denke ich besonders intensiv an Dante Alighieri. Schau, ich habe wieder `Die Göttliche Komödie` eingesteckt. Dieses kleine Reclam-Heft ist ideal, eine Auswahl, die auf den letzten Seiten ganz präzise den Aufbau der Hölle und des Paradieses zeigt.

Was ist präziser gebaut: die Hölle oder das Paradies?
Die Hölle natürlich – die haben wir täglich vor Augen, während das Paradies immer mit einer gewissen Betäubung einhergeht, sonst bleibt es zumeist nur eine Wunschvorstellung. Die Hölle und das Fegefeuer erleben wir alltäglich, beides ist ja sowieso ein Teil unseres Lebens.

Wie oft hast du das Paradies schon – oder schon fast – erlebt?
Das Problem, dass man es immer wieder vergisst, sobald man es erlebt hat. An die Hölle erinnert man sich immer besser, das kommt einem viel realistischer vor, während das Paradiso etwas ist, das man nicht fassen kann. Es ist so, als würde man einen geliebten Menschen umarmen und dabei ist man es selbst, den man umarmt.

Welch wunderbarer Platz, zu dem du uns hier geführt hast. Ein Traum. Eine Idylle.
Jetzt verstehst du, warum ich so gerne hierher komme. Hier passt einfach alles. Genau das suche ich – Abstand zur Massenkultur, eine ganz persönliche Atmosphäre, Menschen, die dasselbe essen und trinken, das sie auch mir geben, und ein ganz natürliches Stilbewusstsein.

Tischgespräche: Dieses Mal mit Gerhard Roth

Ein Paradies. Wie hast du diese schöne Welt des Trinkens denn entdeckt?
Über den Maler Gerald Brettschuh. Er hat mir von den Menhard-Weinen vorgeschwärmt. Das war Anfang der 80er Jahre, da war noch alles in den Anfängen. Heute vermieten die Menhards während des Sommers zwei kleine Häuschen und sind engagierte Bioweinbauern, die gegen die Cocacolaisierung des Weins antreten. Sie meinen, es sei nicht notwendig, dass der Wein überall gleich schmeckt – er soll so schmecken, wie ihn der Boden und das Klima Jahr für Jahr wachsen lassen, durchaus verschieden zum Vorjahr und immer sehr individuell.

Recht haben sie. Und wie schmecken die Weine?
Fantastisch. Die Weißen vom Menhard sind meine Lieblingsweine. Für mich sind beim Wein zwei Sachen wesentlich: der Weingenuss und die Weinbekömmlichkeit. Und auch beim Zweiten schneiden die Menhard-Weine hervorragend ab. Es gibt keinen Wein, den ich so gut vertrage.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hast du wahrscheinlich einige dieser Reben leer getrunken?
Den ganzen Weinberg zu dessen Füßen wir jetzt so schön in der späten Nachmittagssonne sitzen – habe ich leer getrunken.

Welche Weinsorten magst du besonders gerne?
Der gelbe Muskateller ist ganz wunderbar fruchtig-trocken und passt herrlich zu dunklem Brot und Käse – daraus macht der Menhard auch einen Muskateller-Prosecco. Der ist grandios. Und mein Lieblingswein ist der Sauvignon Blanc.

Und weil der Menhard ein so guter Winzer ist, ist er auch dein Trauzeuge?
Unter anderem, aber nicht nur. Übrigens macht er auch einen ganz herrlichen Welschriesling und Morillon …

… der steirische Chardonnay. Nicht meine Welt, muss ich sagen.
Dann musst du seinen Ruländer, einen Grauburgunder oder Pinot Grigio, probieren.
Du wirst lachen, den mag ich auch nicht. Ich liebe säurebetonte Weine.
Aber seinen Sämling musst du probieren. Der ist dem Müller Thurgau sehr ähnlich.

Also eher lieblich.
Ja, eher lieblich. Von Weihnachten bis März ist der Müller Thurgau ein herrliches Getränk, wenn er noch frisch ist und noch ein bisschen moussiert. Da hat er etwas vom Frühling, da liebe ich ihn sehr. Aber eigentlich trinke ich im Winter, dann, wenn ich in Wien lebe, fast nur Rotweine. Erst wenn ich Mitte/Ende März wieder in die Steiermark zurückkehre, beginne ich mit den Weißweinen.

Kann man sagen, dass Schriftsteller und Wein ein Naheverhältnis haben?
Kann man. Das Schönste am Wein ist – und da hast du schon die perfekte Verbindung zum Schriftsteller und Schreibenden –, dass er gelesen bevor er getrunken wird.

Und dass wir jetzt an diesem wunderbaren Platz auch noch ein so herrliches Essen bekommen, ist mehr als sich nur irgendjemand wünschen kann. Die Suppe war ein Traum. Schau dir diese kalten Platten an. Paradeiser, die nach Paradeiser schmecken, dieser Aufstrich, scharf und würzig, und die Eierschwammerl, naja, mehr geht nicht.
Auch das Brot ist selbstgebacken. Und genauso wie bei mir zuhause sitzen wir unter einem Nussbaum und ich hab keine Scham, die Teller zu leeren.

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Was sind für dich die wesentlichen Dinge, damit Augenblicke im Leben stimmen, damit es, so wie du sagst, passt?
Beim Alkohol sucht man die Euphorie und trinkt auf die Euphorie hin, beim Schreiben will man auch in Euphorie kommen, aber es gelingt einem nie ganz, weil man den Verstand einschaltet und das, was man schreibt, kontrollieren will. Daher holt man beim Trinken den Rausch nach, den man beim Schreiben nicht erleben kann, weil das Schreiben immer auch mit Selbstkritik verbunden ist. Damit das Schöpferische abgerundet wird, kommen Alkohol und womöglich gutes Essen dazu – und das Gespräch mit Freunden. Alkohol und Kunst, das ist eine klassische Situation – Pablo Picasso hat es geradezu zelebriert: spielerisch und auf höchstem Niveau aus dem Leben und der Kunst eine Einheit zu bilden. Anders Edgar Allen Poe, bei dem die Schreibsucht in Alkohol- und Drogensucht umgeschlagen hat. Ich glaube, dass jenes Defizit, das beim schöpferischen Akt entsteht, die Anstrengung zum Selbstvergessen mit gleichzeitiger Selbstkontrolle durch den tatsächlichen Rausch später kompensiert wird.


Du schreibst fast ausschließlich hier in der Steiermark, in deinem Haus in St. Ulrich. Könnten diese Romane, diese Mammutwerke, auch anderswo, in Irland, der Toskana oder in Wien, entstehen? Oder ist es so, dass dich diese Gegend, diese Menschen besonders beeinflussen?
Ich bin sehr ablenkbar. Wenn mich ein Freund anruft und mich treffen möchte, lass ich meist alles liegen und stehen … das passiert hier nicht. In der Südsteiermark kann ich vollkommen konzentriert arbeiten, ich habe wenig Ablenkungen und nehme keine Termine wahr. Außerdem erlebe ich den Jahreszeitenwechsel jedes Mal wie etwas Neues. Und ich habe Zeit für die Entdeckungen in mir selbst.


Könntest du dich nicht auch an einen anderen Platz der Welt zurückziehen, muss es die Südsteiermark sein? Könntest du beispielsweise auch in der Karibik schreiben?

Das weiß ich nicht, dort war ich noch nie.


Aber in der Karibik gibt es keine Jahreszeiten, es ist ständig Sommer und das bei 30 Grad im Schatten.
Ich liebe den Sommer.


Was ist mit dem Frühling?
Den mag ich, weil der Sommer danach kommt.


Leidest du ein wenig darunter, dass gerade jetzt im Herbst die Touristen die Südsteiermark überschwemmen und in dein Paradies eindringen?

Ich habe den Begriff Paradies nicht verwendet. Jedenfalls gibt es keines ohne die Hölle und umgekehrt. Aber: Der Mensch ist natürlich Egoist und will alles für sich allein. Es ist ja auch so, dass Menschen, die reisen, über Touristen klagen und dabei selbst Touristen sind.


Aber du bist hier ja kein Tourist.
Nein. Natürlich würde ich am liebsten diesen Landstrich immer so behalten wollen, wie ich ihn vorgefunden habe. Zumindest teilweise, manches war ja weniger erfreulich. Aber die Zeit, die man hier auf Erden verbringt, ist begrenzt, und so rasch gehen die Veränderungen ja auch wieder nicht vor sich. Ich glaube, es ist grundsätzlich so, dass dort, wo Künstler leben, meist später der Tourismus hinkommt. Ich hoffe, dass ich noch so kurz oder so lang zu leben habe, dass diese Welle nicht über mich hinwegrollt.

Tischgespräche: Dieses Mal mit Gerhard Roth

Künstler sind also Indikatoren für die schönsten Plätze der Welt?
Künstler halten sich nicht nur deshalb an einem Ort auf, weil er so schön ist, sondern auch, weil sie meist wenig Geld haben. Das heißt, diese Plätze müssen schön und günstig zum Leben sein. Erst dann, wenn solche entlegenen Gegenden auch von anderen entdeckt werden, werden sie teuer.

Ibiza, St. Tropez, Montmartre in der 20er und 30er Jahren …
Armenviertel waren anfangs meist auch Künstlerviertel, aber sind heute nicht mehr erschwinglich.

Wenn wir nun ein wenig aus der kleinen, schönen Südsteiermark hinausblicken, wo sind jene Plätze auf der Welt, an welchen du noch nicht warst und die du unbedingt einmal besuchen möchtest? Wo musst du noch hin?
Ein Ziel, das ich immer wieder ansteuere, ist Venedig. Davon kann ich mich nur schwer lösen. Und ich denke mir oft, wenn es mir einmal nicht mehr gut geht und ich es dann noch bis Venedig schaffe, reicht mir das eigentlich. Dort habe ich alles, was ich brauche. Venedig ist für mich eine Art Atlantis. Es hat sehr viel Geschichte, trotz allem noch Natur, Schönheit und immer noch Mythologie.

Die für dich wichtig ist?
Ja. Ich sehe in jeder Religion vor allem die Mythologie. Ansonsten würde ich Kirchen und sakrale Bauten nicht ertragen können. Diese Plätze sehe ich wie ein Reisender, der ein antikes Museum besucht. Weitere Reiseziele, die ich noch ansteuere, sind Mexiko und Peru – sehr interessant für mich vor allem wegen der Mayas und Azteken. Afrika habe ich immer geliebt und Marokko ist ein Land, das mich sehr interessiert. Ich habe es aber bis jetzt noch nicht bereist. Ja, und nach St. Petersburg würde ich gerne fahren. Vor allem wegen Dostojewski und all den russischen Schriftstellern. Das Wasser spielt bei mir eine große Rolle … die Kanäle und Grachten. Wasser ist für mich sehr wichtig. Ich fühle mich generell im flachen Land wohler als im Gebirge. Ich bin kein Bergsteiger. Ich könnte zum Beispiel nie in Innsbruck leben, da habe ich das Gefühl, ich sitze in einem Mund und die Zähne rundherum wachsen in den Oberkiefer hinein. Ein ferner Horizont und viel Himmel sind für mich das Schönste. Die Wüste zum Beispiel.

Ist dir dann die Südsteiermark nicht schon zu hügelig?
Ich bilde mir ein, die Hügel wären erstarrte Wellen und die Häuser sitzen darauf wie Schiffe. Dank dieser Vorstellung habe ich hier schon viele Seefahrten unternommen. Daher habe ich mein Buch ja auch Der Stille Ozean genannt. Ich stellte mir immer vor, ich sei auf der Oberfläche eines großen Meeres, und wenn ich untertauchte, sah ich, dass dort unten etwas ganz anderes liegt als die vorgebliche Idylle. Dass unter der landschaftlichen Schönheit bereits das klassische Fressen und Gefressen werden beginnt. So wie es überall üblich ist.

Fantasie hilft dir sehr?
Als Kind habe ich entdeckt, dass es für mich zwei Arten von Leben gibt: jenes, das ich nach außen hin annehmen muss, und das, was in mir selbst ist. Ich habe Bücher immer gelesen, als wären sie eine Art Parallelwelt. Ich habe Bücher nie zur Unterhaltung gelesen, sondern ich bin immer in eine Parallelwelt eingetaucht, die gleichwertig zur erlebten Realität war. Diese Eigenschaft und dieses Glück, mir eine zusätzliche Welt schaffen zu können, habe ich mir stets erkämpft und bis heute erhalten. Ich konnte zum Beispiel bei Krankheiten und Schmerzen in diese andere Welt eintauchen, hinüberwechseln.
Was heißt das?
Zum Beispiel hatte ich mit 21 Jahren einen Herzstillstand, den ich nur deshalb überlebt habe, weil mein Vater, der Arzt war, mir sofort eine Spritze in die Brust gab. Damals hatte ich eine irrationale Erfahrung, ich ging in Gedanken über einen schachbrettartigen Gang, der wie eine Zugbrücke auf mich zukam, und dachte: Sterben ist leicht. Ich wollte eigentlich drüben bleiben und nicht zu den Schmerzen in die Realität zurückkehren. Ich las im Krankenhaus zwei Bücher, die mir – etwas pathetisch ausgedrückt – das Leben gerettet haben.

Welche?
Das eine war `Die Blechtrommel` von Günter Grass, eines der wunderbarsten Bücher, und das zweite `Die Tagebücher` von Robert Musil. Diese beiden Werke haben mich nicht nur die Erdenschwere allein fühlen lassen, sondern ich konnte mich immer wieder in eine andere Realität verabschieden.

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Heißt das, dass du vor dem Sterben keine Angst hast?
Ich habe natürlich Angst vor dem Sterben, aber ich habe keine Angst davor, dass ich es nicht schaffen könnte. Das klingt vielleicht lächerlich, weil es ja sowieso jeder schafft und schaffen muss. Ich meine damit die Angst, dass ich es vor mir selbst nicht schaffen kann. Ich bin jetzt Ende Sechzig und mit 70 kommt ja bekanntlich das dunkle Jahrzehnt und alles wird sich in die Nacht hinein verwandeln …

Aber noch ist Tag. Wie empfindest du dein Leben momentan?
Je jünger ich war, desto stärker war der Wunsch zu sterben. Je älter ich werde, desto weniger will ich sterben. Heute ist mir das Leben etwas sehr Kostbares geworden, und der Gedanke der Selbsttötung ist außer Reichweite. Höchstens die Lebensumstände würden mich dazu zwingen. Mein Lebenswille und meine Lebensfreude sind jetzt viel stärker als in meiner Kindheit und Jugend.

Wo stehst du gerade? Ist es noch später Sommer? Herbst? Winter?
Der Winter beginnt gerade. Manchmal schneit es auch schon.

Aber Schnee liegt ja oft sehr lange …
Und Schnee ist schön. Ja, aber ich denke immer an den Tod. Mein gesamtes Schreiben ist auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Dadurch bleibt man bei der Wahrheit, und was man erfindet, erfindet man aus dieser Einstellung heraus. Ich habe in meinem ganzen Leben nie ein Buch geschrieben, das aus irdischem Glück heraus entstanden ist. Darauf bilde ich mir nichts ein, das ist nur ein Faktum. Es gibt einen imaginären Leser, den ich mir vorstelle ...

Wie siehst du diesen Leser?
Ähnlich wie mich selber.

Bist du zufrieden mit deinem Ebenbild?
Nein, ich bin nicht ganz glücklich, weil ich merke, dass nicht viele so sind wie ich. Wenn alle so wären wie ich, wäre ich ja ein Bestsellerautor. Ich weiß, dass ich eine Art Sonderling bin und dass meine Gedanken und Empfindungen nicht immer nachvollziehbar sind, was für den Verkauf meiner Bücher einstweilen nicht günstig ist.

Aber beim Schreiben, denkst du ja sicherlich nicht an Verkaufszahlen?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe noch nie spekuliert. Ich habe mit Wolfgang Bauer zwei Sätze geteilt, die wir beide oft angewendet haben, wenn wir über Kunstwerke sprachen, die uns nicht gefielen. Der eine war: ,Wer spekuliert, verliert.‘ Den zweiten hörten wir bei der Übertragung des Fußballspiels von Österreich gegen Deutschland aus Cordoba. Herbert Prohaska machte einen wunderbaren Pass durch die Abwehr der Deutschen. Leider konnte der andere Spieler diesen Ball nicht annehmen. Daraufhin sagte der Sportreporter Edi Finger, ohne zu wissen, wie philosophisch dieser Satz ist: `Herrlich gemacht, aber schlecht.`

Mit Wolfgang Bauer hat dich eine große Freundschaft verbunden. Fehlt er dir?
Sehr. Ich habe drei wirklich große Künstlerfreunde. Den einen hatte ich – das war der Wolfgang Bauer –, und die anderen habe ich hoffentlich noch immer: Das sind der Günter Brus und der Peter Pongratz. Mit allen dreien hatte ich das größte Nahverhältnis – von Künstler zu Künstler. Wolfgang Bauer ist in unsere Welt gewissermaßen nur zwangsrekrutiert worden. Er war aus einer anderen Kultur, die zum Teil etwas Heiliges hatte. Er war nie auf die materiellen Dinge aus, ihm war nur der Augenblick wichtig: Ihn galt es zu finden und zu leben.

Kann es denn mehr geben, als den Moment zu leben?
Nein. Aber sein Problem war der darauffolgende Abstieg. Als der Alkoholismus zur Krankheit wurde und die Sucht dazukam. Es war ein Zerstörungsvorgang, den ich teilweise nicht mehr miterleben konnte und wollte. Erst später, als es dem Ende zuging, während der letzten Monate seines Lebens, da gab es wieder eine große Nähe. Ich wusste, dass es ein Abschied war, aber der Wolfgang wollte sich auf solche Gedanken nicht einlassen.

Wusste er, dass es zu Ende ging?
Er war der größte Verdränger Europas. Er hat sich im Sterben komplett zurückgezogen. Es war ein qualvoller Weg zum Abschied.

Und Günter Brus?
Er ist der beeindruckendste Künstler, den ich aus der Nähe kennengelernt habe. Sein Werk ist einzigartig.

Wann ist für dich als Schriftsteller der schönste Moment, wenn du mit einem Buch fertig bist?
Der wichtigste Augenblick ist immer der Moment, in dem ich weiß, was ich als Nächstes machen werde.

Tischgespräche: Dieses Mal mit Gerhard Roth

Kannst du dich an jenen Moment erinnern, in dem du dein erstes Buch in der Auslage einer Buchhandlung gesehen hast? Wie war dieser Moment?
Diese Frage möchte ich über einen Umweg beantworten. Ich habe immer geheim für mich selbst geschrieben, auch, als ich über viele Jahre im Rechenzentrum Graz tätig war – bis zu meinem 31. oder 32. Lebensjahr. Ich hatte dort einen Freund, Fritz Königshofer, ein mathematisches Genie und unter anderem Mitentwickler des vom Computer gesteuerten 6-Tage-Wetter-Prognosemodells. Er wusste, dass ich schreibe. Ihm gab ich den experimentellen Roman, an dem ich gerade gearbeitet habe, zum Lesen. Königshofer kopierte ihn ohne mich davon zu informieren  und schickte ihn dem Suhrkamp-Verlag. Vier oder fünf Monate später erhielt ich ein Schreiben von dem Lektor Thomas Beckermann, man wäre an einem Gespräch mit mir interessiert, ich solle nach Frankfurt kommen. Zufällig hatte die Fluglinie SAS zu diesem Zeitpunkt einen schweren Computerfehler und unser Rechenzentrum war bekannt für autonomes Arbeiten. Also flogen wir zu dritt als Nottruppe nach Kopenhagen, Fritz Königshofer, ein anderer Freund ,Rudolf Zettelmann, und ich. Fritz Königshofer fand den Fehler bereits nach einer Viertelstunde. Bei der SAS war man überglücklich und bot uns einen Freiflug in eine Destination unserer Wahl an. Das war 1971, und wir waren so naiv, dieses Angebot auszuschlagen. Nur ich erbat mir einen Rückflug über Frankfurt, um den Termin bei Suhrkamp wahrnehmen zu können. Dort kam ich sofort zu Thomas Beckermann, der meinte, er hätte noch nie ein solches Manuskript zugeschickt bekommen – mit durchgestrichenen Wörtern, Korrekturen etc. Das hätte sich noch niemand getraut, an den Verlag zu schicken. Trotzdem haben sie es angenommen. Das war ein sehr entscheidender, emotionaler Moment für mich.

Um welches Buch hat es sich gehandelt?
Schließlich um die drei experimentellen Bücher: die `autobiografie des albert einstein`, `Der Wille zur Krankheit` und `Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs`. Der zweite und vielleicht noch stärkere Moment war, als ich in London bei einem Meeting mit der Computerfirma Univac war, und einen Anruf des Suhrkamp-Verlages erhielt. Man wollte mir ein Jahresgehalt zahlen, um mir zu ermöglichen, in Ruhe einen Roman zu schreiben. Das habe ich mir bis heute gemerkt. Der Direktor des Rechenzentrums in Graz Dr. Reimann, ermöglichte mir schließlich den Ausstieg aus dem Betrieb …


… und deinen Anfang als Schriftsteller.
Ja. Es waren also nicht die Bücher in der Auslage, die für mich die größten emotionalen Momente auslösten, sondern diese zwei Begebenheiten.


Eine abschließende Frage, weil wir hier so gemütlich beisammensitzen, gut essen und trinken. Sind die Begriffe Kultur und Genuss für dich überhaupt zu einen? Peter Turrini hat auf diese Frage geantwortet: `Für mich hat Kultur nichts mit Weinflaschen und Wohlfühlen in Gourmettempeln zu tun, sondern ist oft sehr selbstquälerisches Denken und Schreiben. Genuss ist das keiner.` Wie ist das für dich?
Ich brauche als Autor nicht das Alibi, dass es mir immer nur schlecht geht. Selbstverständlich gibt es auch Euphorie. Wenn ich mir zum Beispiel einen Film von Andreij Tarkowski anschaue, dann gehe ich, obwohl ich Agnostiker bin, als Gläubiger hinaus – weil ich so beglückt und durchdrungen von allem Gesehenen, Gehörten und Empfundenen bin. Die Kultur ist nicht alles, auch ich bin nur ein Teil oder Teilchen. Aber selbstverständlich hat Kultur auch viel mit Freude, Schönheit und Beglückung zu tun.

Buchtipp

Tischgespräche: Dieses Mal mit Gerhard Roth

Angelika & Michael Horowitz
TISCHGESPRÄCHE
Über Essen, Trinken und die anderen schönen Dinge des Lebens
Amalthea Signum Verlag
ISBN 978-3-85002-758-8
224 Seiten
VK-Preis: 19,90 €

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