"Mein Herzfehler hat mich stärker gemacht"
Für die meisten Kinder ist Weihnachten die beste Zeit im Jahr. Doch nicht für Anna. Im Winter, wenn es draußen kalt ist und die niedrigen Temperaturen ihrem Körper etwas mehr abverlangen, ist Annas Krankheit nämlich auch äußerlich zu sehen. „Blaue Lippen, die blasse Haut färbt sich ebenso leicht bläulich. Das finde ich natürlich nicht schön“, erzählt das heute 18-jährige Mädchen während sie ein Himbeersoda bestellt.
Anna spricht eloquent und nach der Schrift. Anna ist eine sehr aufmerksame und intelligente junge Frau. Nach ein paar Minuten legt sich ihre Nervosität und sie lacht viel. Ihre Angst, dass sie vielleicht nicht imstande ist, einige Fragen ausreichend zu beantworten, ist wie verflogen. „Ich war noch sehr klein, als ich die Diagnose bekam, daher kann ich mich nicht an alles erinnern“, entschuldigt sie sich eingangs. Doch sie beantwortet die Fragen wie ein Profi.
Anna ist sechs Jahre, alt als ihrer Volksschullehrerin auffällt, dass sie sich beim Sport mehr anstrengt als ihre Klassenkameraden. Sie atmet schneller und lauter. Kurz darauf wird bei ihr der Herzfehler DORV diagnostiziert. DORV steht für Double outlet right ventricle. Es gibt nur eine große rechte Herzkammer, aus der Körperschlagader und Lungenschlagader kommen.
Dieser Herzfehler hat viele Gesichter. Die Gefäße können vertauscht sein, zu groß oder zu klein sein. Auch die Lage des Loches im Herzen kann ganz unterschiedlich platziert sein. Daher entstehen ganz unterschiedliche Krankheitsbilder mit unterschiedlichen Symptomen. Es gibt Kinder, die schon von Geburt äußerlich sehr blau sind.
Und eben welche, bei denen man erst später merkt, dass sie an diesem Herzfehler leiden. Die blauen Verfärbungen liegen an der Vermischung des sauerstoffarmen und sauerstoffreichen Blutes. Sie zeigen sich besonders bei körperlicher Anstrengung. Durch den Herzfehler hat sich bei Anna zusätzlich Lungenhochdruck entwickelt. Es verschließen und verhärten sich langsam die Blutgefäße des Lungensystems, wodurch der Druck ansteigt.
Ein normaler Teenager
Für das Mädchen standen in den Jahren nach der Diagnose zahlreiche Arztbesuche und Klinikaufenthalte auf der Tagesordnung. „Damals war die Diagnose für meine Eltern sehr schlimm. Zuerst wurde ihnen gesagt, dass ich nicht lange leben werde, das war natürlich eine Katastrophe für meine Familie.“ Doch die Behandlungen im Kinderherzzentrum des AKH in Wien schlagen gut an, ihr Zustand pendelt sich im Teenager-Alter wieder ein. Abstriche musste Anna dennoch einige machen. „Früher war ich oft Hip-Hop-Tanzen und habe selbst voltigiert. Seit zwei Jahren kann ich das gar nicht mehr machen, ich bekomme zu wenig Luft.“ Die Verschlechterung sei über die Jahre hinweg nie rasant, sondern schleichend gekommen. Sport ist nun weitgehend Tabu.
Anna erinnert sich, dass sie die vielen Untersuchungen als kleines Kind viel schlimmer wahrgenommen hat als heute. „Ich war in der Volksschule oft traurig, etwa als ich die Buchstabentage verpasst habe, weil ich im Krankenhaus war.“ Aber je älter sie wurde, desto besser ist sie damit umgegangen. „Im Sommer sieht man mir die Krankheit gar nicht an, da schaue ich ganz gesund aus“, sagt sie mit weicher Stimme und leuchtenden Augen. „Mir geht es heute prinzipiell sehr gut und ich sehe mich selbst auch nicht als krank an. Ich treffe mich oft mit Freunden und mache das, was andere Teenager auch machen. Da ich selbst nicht mehr voltigieren darf, trainiere ich nun meine Schwester. Das war anfangs sehr hart für mich, aber nun ist es okay!“
"Es kann sein, dass ich eine neue Lunge brauche"
Fünf mal pro Jahr muss Anna zur Untersuchung ins Kinderherzzentrum im AKH. Ein allgemeiner Check, Ultraschall und ein Gehtest wird gemacht. „Da muss ich zehn Minuten auf und ab gehen und per EKG wird gemessen, wie sehr es mich anstrengt. Die Werte sind in den letzten zwei Jahren gleich geblieben, also nicht schlechter geworden“, sagt sie stolz. Sieben Tabletten nimmt Anna täglich. „Gefäßerweiternde, welche für den Kreislauf und gegen den Eisenmangel. Aber mit denen geht es mir gut.“
Unterhält man sich mit Anna über ihren Gesundheitszustand, so fällt auch das Wort Lungentransplantation, denn der Hochdruck in dem Organ, den der Herzfehler verursacht, schädigt sie. „Es kann sein, dass ich in der Zukunft eine neue Lunge brauchen werde. Aber wir wissen es jetzt nicht, weil es mir aktuell gut geht. Die Ärzte transplantieren erst dann, wenn es wirklich notwendig ist. Sie sagen, dass ich früher viel Sport gemacht habe, hilft mir nun.“
Annas Eltern passen gut auf sie auf. „Wenn in meinem Umfeld jemand krank ist, dann bleibe ich lieber fern. Ich muss darauf achten, dass ich mich nirgends anstecke.“ Seit einem Jahr steht neben Annas Bett ein Sauerstoffgerät, das sie in der Nacht verwendet, wenn es ihr nicht gut geht. „Da setze ich dann die Sauerstoffmaske auf und das hilft mir sehr.“
Anna mag den Ausdruck „Krankheit“ eigentlich überhaupt nicht. „Ich habe die Matura erfolgreich absolviert und auch den Führerschein,“, erzählt sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich weiß aber, dass ich mir sehr wohl darüber Gedanken machen muss, was ich beruflich machen möchte. Weil ich oft müde bin, vor allem im Winter, da geht es mir immer schlecht mit dem Atmen. Mir ist auch immer viel, viel kälter als allen anderen.“ Doch Anna versinkt nicht im Selbstmitleid, sondern hängt mit selbstbewusster Stimme an: „Lehrerin wäre eine Option, auch wegen der Pausen und der Ferien. Das würde mir auch sehr viel Spaß machen, ich weiß, ich wäre sehr gut im Unterrichten.“
Anna sagt, sie fühlt sich im AKH-Kinderherzzentrum sehr gut aufgehoben.
Der Gang, den Anna hier fünfmal im Jahr entlang schreitet während ihre Werte gemessen werden, ist gesäumt von bunten Bildern und Zeichnungen. Es ist ruhig hier. Die meisten Zimmertüren sind geschlossen, ab und zu huschen Ärzte oder Pflegepersonal vorbei. Ein großer leuchtender Weihnachtsbaum steht mitten auf der Station. Es riecht nach Keksen. Ein Teilbereich des Zentrums nennt sich Kinderkardiologie. Dr. Ina Michel-Behnke hat hier das Sagen. Ihr Namensschild ist rot und hat eine Herzform. Michel-Behnke hat kurze schwarze Haare und eine ruhige, leise Stimme. Ihr Humor ist trocken. Ihr Beruf ist ihre Passion. Auf die Frage, wie viele Stunden sie täglich arbeitet, antwortet sie mit einer Gegenfrage und nahezu ohne Mimik und Gestik. „Wie viele arbeite ich nicht?“ Sie ist quasi die Ruhe in Person.
Bis zu 14 Stunden können es bei der Ärztin heute noch insgesamt werden. Kein Tag gleicht dem anderen. Ein Notfall-Kind in der Früh – und der ursprüngliche Plan wird sofort umgeworfen. In den letzten 30 Minuten hat dreimal ihr Pager gepiept, den sie in der Brusttasche des weißen Arztmantels trägt. Umgehend ruft sie zurück und gibt medizinische Anweisungen. „Das Kind möchte ich unbedingt noch persönlich begutachten“, sagt sie zum Anrufer am anderen Ende der Leitung. „Wenn man sich für diesen Beruf entscheidet, dann geht man all das ein und stellt es nicht infrage. Ich werde nicht krank an Arbeitstagen, sondern zu Weihnachten, um drei in der Früh oder an dem Wochenende, an dem ich frei habe.“
"Bin sicher nicht der klassische Primar"
Michel-Behnke hat vor zehn Jahren ihre Heimat Deutschland für diesen Job hier verlassen. Die Entscheidung sei ihr leicht gefallen. „Meine speziellen Kenntnisse waren für die Wiener Klinik so interessant, dass man mir das Angebot gemacht hat, die Kinderkardiologie zu leiten und aufzubauen.“ Ihr Spezialgebiet ist die Behandlung von angeborenen Herzfehlern mit Katheter-Techniken. Also ohne Operation. „Wir sind sehr stolz auf all das, was wir in diesen zehn Jahren geschafft haben.“ In einem kleinen Land wie Österreich habe man einen guten Überblick über die nationale Verteilung von Krankheiten. Daher sei die Etablierung von Expertenzentren einfacher. Einer dieser Kompetenz-Hotspots ist das Kinderherzzentrum.
Die Nähe zu ihren Patienten hat für sie oberste Priorität. „Ich kann gar nicht anders. Ich bin sicher nicht der klassische Primar, wie man sich ihn sich vorstellt. Ich brauche den Patientenkontakt, ich muss doch wissen, warum ich das mache.“ Auf die Frage, wie sie damit umgeht, tagtäglich herzkranke Kinder zu sehen, reagiert sie gelassen und ernst zugleich. „Viele denken, die Arbeit fällt bei älteren Menschen leichter, denn die haben ihr Leben gelebt. Aber die Erfolgsaussichten in meinem Fach sind inzwischen sehr gut, wir können so viel tun.“
Das Kinderherzzentrum besteht aus mehreren Teilbereichen. Einer davon ist die Kinderkardiologie. „Wir machen alles vor einer und nach einer Operation, auch ambulante Untersuchungen. Und die Deeskalation nach Hause.“ Ein weiterer Teilbereich ist die Herzchirurgie. Dr. Daniel Zimpfer operiert hier mit seinem Team. Außerdem besteht eine intensive Zusammenarbeit mit Geburtshelfern, Neonatologen und Anästhesisten.
Die häufigsten Krankheiten sind Herzfehler. Das ist hier die tägliche Arbeit. „Ventrikel-Septum-Defekte. Also kleine Löcher zwischen den Herzkammern. Sie machen 30 Prozent aller Herzfehler aus. Viele davon benötigen keine Operation. Wir gelten auch international als Expertise-Zentrum dafür“, sagt Michel-Behnke. Darüberhinaus gibt es Kinder mit Herzrhythmusstörungen. „Wir haben schon ganz Kleine, die einen Schrittmacher brauchen. Auch solche, die eine Ablationstherapie bekommen. Hier werden mit Elektrischem Strom die Kurzschlüsse unterbunden, so dass das Herzrasen nicht mehr auftritt. Dann gibt es noch das Symptom Lungenhochdruck. Er ist eine häufige Folge von Herzfehlern. Einige dieser Kinder werden später eine neue Lunge bekommen müssen“, fährt die Ärztin fort.
Eine weitere Patientengruppe sind die so genannten Syndrom-Kinder. Etwa solche mit Spinnenfingrigkeit. „Das sind Patienten, die ganz groß sind und sehr lange und dünne Gliedmaßen haben. Daran erkennt man sie. Sie leiden unter dem Marfan-Syndrom und weisen oft eine Herzbeteiligung auf. Auch die behandeln wir hier, weil diese Kinder akut sterben können, wenn die Aorta plötzlich reißt.“ Auch Trisomie-21-Kinder haben zu 60 Prozent einen angeborenen Herzfehler.
„Und schließlich behandeln wir die Herzinsuffizienz. Hier kann das Herz die Arbeit nicht mehr bewältigen. Zuerst verabreichen wir Medikamente, dann arbeiten wir mit unterstützenden Pumpen, danach folgt die Transplantation des Herzens.“
Jedes akut erkrankte Kind wird behandelt
Auch zahlreiche DORV-Kinder, wie Anna eines ist, werden hier behandelt. „Je früher man einen Herzfehler entdeckt, desto besser ist die Prognose. Vor einigen Jahren hätte diese Diagnose noch weit mehr Sorgen bereitet, weil die OP-Techniken noch weit weniger ausgereift waren. „Heute aber sind Frühkorrekturen in den ersten Lebensmonaten normal.“
Es sei über die Jahre hinweg die Ausnahme geworden, dass Neugeborene an einem komplexen Herzfehler sterben. „Daher ist es auch so wichtig, universitär zu arbeiten, um zum Fortschritt beizutragen.“ 8000 ambulante Patientenkontakte verzeichnet das Wiener Kinderherzzentrum pro Jahr. Stationär gibt es hier 20 Betten, 16 davon sind so genannte High Level Intermediate Care Betten, die den besten Standards entsprechen. „Wir bieten hier Medizin auf international höchstem Niveau.“ Michel-Behnke erzählt von der Warteliste für die Betten, betont aber, dass ein akut erkranktes Kind immer einen Platz bekommen und innerhalb von 24 Stunden versorgt wird.
Mundschutz, Mantel und Haube
Die modernsten Herz-Ultraschallgeräte, die neuesten Überwachungsmöglichkeiten, ausklappbare Betten für die Eltern der Kinder, eigene Waschräume und Küchen für die Familie. „Mutter oder Vater können also rund um die Uhr bei ihren kranken Kindern sein. Das beeinflusst den Krankheitsverlauf enorm positiv“, erzählt die Ärztin. „Es gibt natürlich immer noch Wünsche, aber unsere Station ist schon sehr nah an perfekt.“ Michel-Behnke führt durch die Räumlichkeiten. Ganz leise und vorsichtig nähert sie sich den Patientenzimmern. Die meisten sind abgedunkelt, einige mit Hinweisen an der Türe. „BITTE GANZ LEISE SEIN, JULIA BRAUCHT VIEL RUHE!“, steht auf einer. Das Mädchen hat gerade ein neues Herz bekommen. Der Raum darf nur mit Mundschutz, Mantel und Haube betreten werden.
Eine Türe weiter liegt ein kleiner Bub, der auf der Warteliste für ein neues Herz steht. Untertags darf er nach Hause. Kinder mit bakteriellen Infektionen müssen streng separiert werden von den anderen. Prinzipiell gelte die Regel, das eigene Herz solange wie möglich zu erhalten, doch ist es zu schwach, muss transplantiert werden. Österreich hat ein Transplantationsgesetz. Jeder, der hier lebt, ist Spender. „Trotzdem haben wir manchmal den Eindruck, dass es nicht genügend gibt. Wenn wir heute ein Kind auf die Warteliste nehmen, dann rechnen wir damit, dass die Wartezeit ein Jahr beträgt. Wir versuchen daher, so früh wie möglich zu listen.“ Die Verteilung der Organe läuft über die Organisation Eurotransplant. „Das ist auch gut so“, betont Michel-Behnke. „Es gibt keine Möglichkeiten, sich höher zu reihen. Die Entscheidung der Vergabe trifft ein Konsortium, das die entsprechenden Patientendaten von uns erhält.“
Hoffnung auf kluge Köpfe
Österreichische Kinder bekommen selten Herzen von hier gestorbenen Kindern. „Die Organe werden über Landesgrenzen hinweg verteilt. Die meisten Herzen, die wir erhalten, sind nicht aus Österreich“, sagt die Ärztin. Trotz der Regelung hierzulande, seien wir dennoch kein spenderfreudiges Land. „Viele Eltern sagen, sie wollen das nicht. Und dann machen wir das auch nicht. Etwa bei muslimischen Familien ist das ein Thema.“
Besteht bei einem Kind die Sorge, dass es auf der Warteliste verstirbt und lässt es die Gefäßsituation zu, kann eine Kunstherzimplantation durchgeführt werden. „Wir haben einen kleinen Jungen, der schon drei Jahre am Kunstherz hängt. Seine Grundkrankheit muss zuerst geheilt werden, bevor er ein neues Herz bekommen kann. Der Bub hat Blutkrebs.“ Ein Kunstherz ist eine Pumpe mit Schläuchen, die an die Herzkammern und die großen Adern angeschlossen werden. Wenn die Kinder größer sind, ab 20 kg Körpergewicht, dann wird die Pumpe im Brustkorb oder im Bauchraum versteckt. „Bei Säuglingen liegt sie außen auf dem Bauch und wird erstaunlich gut toleriert.“
Transplantierte Herzen halten heute rund 20 Jahre. Obwohl die Empfänger ihr Leben lang Immunsuppressionen und andere Medikamente nehmen müssen, die zu Folgekrankheiten führen können, sieht Michel-Behnke diesen Eingriff als ein gutes Angebot. „Bis ein kluger Kopf wieder eine neue Idee hat. In diesem Bereich tut sich sehr viel.“ Eine Sache ist der Ärztin noch besonders wichtig. „Ja natürlich sind diese Kinder arm, aber vielen geht es sehr gut mit ihrer Situation. Sie müssen eingeschränkt leben, aber diese Kinder haben ein großes Bedürfnis danach, wie die anderen zu sein. Etwa in der Schule. Inklusion, so weit sie möglich ist, finde ich hier sehr wichtig.“
Leben im Jetzt
Als Anna jünger war, wollte sie nicht, dass ihre Mitschüler etwas über ihren Gesundheitszustand wissen. „Aber ab der Oberstufe habe ich es selbst erzählt. Wenn du stehen bleiben musst beim Gehen, merken die es ja ohnehin“, lacht Anna und erwähnt kichernd, dass es die eine oder andere Turnstunde gab, wo sie sogar froh war, nicht mitmachen zu müssen. Ihre Klassenkameraden hätten sich stets genauso verhalten, wie sie es sich gewünscht hat. Anna ist kein Opfer, Anna ist nicht krank, aber wenn es nötig ist, dann tragen sie Anna die Tasche oder warten kurz auf sie. Ohne viel darüber zu reden.
Anna wohnt noch bei ihren Eltern. „Irgendwann werde ich ausziehen, werde aber in der Nähe meiner Familie bleiben. Da fühle ich mich sicher. Aber das wird noch dauern.“ Wenn Anna an die Zukunft denkt, dann denkt sie an all die schönen Dinge, die sie erwarten. „Über alles andere mache ich mir kaum Gedanken, mir geht es jetzt sehr gut. Mein Herzfehler hat mich stärker gemacht."
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