Live-Bericht aus dem Kinderzimmer

Live-Bericht aus dem Kinderzimmer
Auf dem Videoportal "YouNow" übertragen Jugendliche ihren Alltag ins Netz. Das sorgt für Kritik - doch die Teenies sind meist überraschend vernünftig.

Selina (alle Namen von der Redaktion geändert) hat Schulferien, ihr ist langweilig. Sie sitzt in ihrem Kinderzimmer und spricht in ihre Webcam: Über ihren Nagellack, der schon wieder abblättert. Ihr iPhone, das „beste Handy, das es gibt“. Über ihre neue Haarfarbe. Alltägliche Dinge, die ihr gerade in den Sinn kommen. Manchmal sagt sie minutenlang gar nichts, summt ihr Lieblingslied und schaut in die Ferne. Und jeder kann ihr dabei zusehen.

Selina verwendet „YouNow“ – genauso wie Gina und Jan und viele andere Pubertierende. YouNow ist ein amerikanisches Videoportal, auf dem Jugendliche ab 13 ihr Leben ins Internet streamen können. Live. Das geht so einfach, dass es schon fast erschreckend ist: Klickt man auf www.younow.com, erscheint sofort das Gesicht eines Teenagers, der in seinem Zimmer sitzt und mit einem für ihn unsichtbaren Publikum spricht. Das Zusehen ist kostenlos, eine Anmeldung nicht nötig. Registrieren muss sich nur, wer im Chat mit Selina & Co kommunizieren möchte.

Und das tun viele. Die meiste Zeit, die Selina online verbringt, liest sie die Fragen ihrer „Fans“ vor und beantwortet sie. Im Sekundentakt, eine nach der anderen: Was ist deine Lieblingsfarbe? Türkis. Hast du Geschwister? Ja. Wie alt bist du? 14. Schaust du Germany’s Next Topmodel? Ja. Kannst du singen? Nein. Ein bisschen wie in einem jener Freundschaftsbücher, die in den Volksschulen durch die Klassen gereicht werden. Nur, dass hier jeder mitschauen kann.

"Zeig mir deinen Bauch"

An diesem Punkt stoßen sich Jugendschützer. Es lässt sich nicht kontrollieren, wer die jungen Menschen beobachtet. Es gibt keine Klarnamenpflicht, das heißt, jeder kann anonym alles schreiben. Und wer den Video-Stream länger verfolgt, merkt, dass nicht nur harmlose Fragen gestellt werden. „Zeig mir deinen Bauch!“, fordert ein anonymer Nutzer die 15-jährige Gina auf. Doch die Teenies reagieren selbstbewusster und vernünftiger als erwartet. „Sicher nicht“, antwortet Gina bestimmt. Einen anderen, der noch weiter geht, blockiert sie sofort. Er kann sie nicht mehr anschreiben. Auch die 16-jährige Jessica lässt sich nichts gefallen. „Bist du unten behart?“, will jemand im Chat wissen. „Alter, das geht dich gar nichts an!“, sagt Jessica entzürnt. „Und außerdem: Lern erstmal rechtschreiben!“

Natürlich kann man auf YouNow auch "liken", "ein Fan werden". Manche der Teenies sind Stars - zumindest in ihrem kleinen Kosmos. "Wer mit mir in Kontakt treten möchte, soll mir hier schreiben. Ich kann unmöglich alle Facebook-Anfragen annehmen", stöhnt die 17-jährige Victoria. Später möchte sie Schauspielerin werden, erzählt sie einem neugierigen Mädchen im Chat. Für Victoria ist YouNow eine Bühne - eine Bühne im eigenen Kinderzimmer.

KURIER: Jugendliche streamen ihr Leben im Internet und lassen fremde Menschen dabei zusehen. Warum?

Sandra Gerö: Die Idee der Selbstdarstellung im Internet ist ja nicht neu. Auf YouTube gibt es das schon länger - Jugendliche, die Videos von irgendwelchen Fadigkeiten ins Netz stellen. Zum Beispiel, wie sie sich die Nägel lackieren. Das, was jetzt passiert, ist eine Demokratisierung: Auch der "kleine Hansi" kann plötzlich darauf hoffen, dass ihm viele Leute zusehen. Auf YouTube haben das ja nicht so viele geschafft. Hier, auf YouNow, kommt man halt schnell zu seinen 15 Minuten Ruhm.

Glauben Sie, dass viele damit aufhören, wenn die Pubertät vorbei ist?

Das hat sicher mit dem Alter zu tun. In dieser Entwicklungsphase ist es besonders wichtig, wie ich auf andere wirke: Was macht mich beliebt, was sollte ich noch optimieren? Wenn die Pubertät vorbei ist, ist das irgendwann nicht mehr so interessant.

Viele Teenager reagieren vernünftig, wenn sie blöd angeredet werden.

Das kann ich mir vorstellen, denn es ist ja nichts Neues. Viele Jugendliche wissen schon, wie es ist, im Chat blöd angequatscht zu werden. Sie haben gelernt, sich zu wehren und nichts preiszugeben. Und, was man auch sagen muss: Diese ganzen Präventionsprogramme - Safer Internet oder Rat auf Draht - scheinen zu wirken.

Eltern müssen sich also keine Sorgen machen?

Sorgen kann man sich immer machen - muss man aber nicht. Das ist wieder einmal typisch: Sobald es etwas Neues gibt, folgt ein Aufschrei. Wie das Amen im Gebet. Dabei ist das doch harmlos. Mich erinnert es an das Freundebuch, das ich in meiner Schulzeit hatte. Auf jeder Seite standen Fragen wie "Welcher Star wärst du gerne?" oder "Welche Musik hörst du am liebsten?". Das hat man dann anderen zum Ausfüllen gegeben. Das war toll - jeder hat diese Fragen irrsinnig gerne beantwortet und gelesen, was die anderen geschrieben haben. Das ist ein Bedürfnis von Jugendlichen, das man nicht verteufeln sollte. Es ist doch wunderschön, wenn jemand wissen will, was meine Lieblingsfarbe ist. Ich verstehe, dass Jugendliche da total reinkippen und diese Aufmerksamkeit genießen.

Es besteht also keine Gefahr? Theoretisch können auch Pädophile zusehen.

Natürlich kann das gefährlich sein. Aber wenn ich Fotos von mir auf Facebook stelle, kann ich auch nicht kontrollieren, wer die auf sein Handy lädt und dazu masturbiert. Wichtig ist, dass man sich nicht identifizierbar macht: Also keine Informationen im Hintergrund, die Details zum Wohnort oder zum Namen der Schule verraten könnten. Ich glaube aber, dass die Jugendlichen sehr vif sind und auf solche Dinge achten. Sie wissen, dass sie auf sich aufpassen müssen.

Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn sie merken, dass sich ihre Kinder auf YouNow herumtreiben?

Sie sollten sich einfach dafür interessieren und nicht automatisch alles besser wissen. Wichtig ist, dass man immer ein offenes Ohr hat - damit man Ansprechperson bleibt, falls es dann doch Probleme gibt.

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