Ein Jahr ohne Alkohol: "Die wenigsten können sich nüchtern öffnen"

Ein Jahr ohne Alkohol: "Die wenigsten können sich nüchtern öffnen"
Als Partytiger war Timm Kruse um keinen Schwips verlegen – sein Selbstversuch zeigt, wie schwierig es ist, wenn einer nicht mehr mittrinkt.

„Die Leute kommen im Urlaub an und fotografieren als erstes ihr Cocktailglas vor dem Strand. Das ist das Zeichen des Glücks“, sagt Timm Kruse. Früher hat der deutsche Autor keinen Drink abgelehnt, bei jedem Partylied mitgegrölt, im Rausch schnell mal eine Unbekannte geküsst oder sich mit jemandem angelegt.

„Trinken Sie zu viel?“, stand da eines Tages in einem Magazin, das er durchblätterte. „Klar, aber nicht mehr als der Rest meiner Freunde, Verwandten und Kollegen. Ganz normal halt.“ Das Testergebnis erschütterte ihn nicht, motivierte ihn aber zu einem Selbstversuch: ein rauschfreies Jahr. Im Gespräch mit dem KURIER erzählt Kruse, warum Vieltrinker ein Problem mit Nicht-Trinkern haben, warum Rückfälle wichtig sind und welchen Umgang mit Alkohol er seinen Kindern beibringen würde.

KURIER: Wie merkt man, dass man ein Alkoholproblem hat?

Timm Kruse: Für mich gibt’s zwei wichtige Punkte: Sobald ich anfange zu lügen, also Alkohol verheimliche oder eine Nicht-Wahrheit erzähle, habe ich ein Problem. Zweitens, wenn ich mir kein Leben ohne Alkohol vorstellen kann. Und das kann schon beim beliebten täglichen Gläschen Wein beginnen, oder beim Bier zum Essen. Warum ist es so schwierig, darauf zu verzichten?

In Ihrem Buch schreiben Sie über Treffen mit Alkohol trinkenden Menschen: „Ich bin ihr schlechtes Gewissen.“ Wie gehen andere damit um, wenn einer in der Runde nicht trinkt?

Seit ich mich mit dem Buch geoutet habe, höre ich ganz häufig Sprüche wie: „Schade, dass wir keinen Aperol zusammen trinken können.“ Viele gehen ganz seltsam damit um und glauben Witze machen zu müssen. Ich frage mich, ob sie Angst haben, dass ich sie überzeugen könnte, dass sie zu viel trinken. Vieltrinker mögen niemanden, der nicht trinkt. Die fühlen sich damit nicht wohl. Man isst auch nicht gerne ein Rumpsteak, wenn ein Vegetarier neben einem sitzt. Da fühlt man sich irgendwie scheiße.

Die Vieltrinker wollen unbedingt, dass man dieses wertvolle Gut Alkohol mit ihnen teilt. Als ob man jemandem den Handschlag verweigert. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz: Wenn ich dir etwas Alkoholisches zu trinken anbiete, musst du mittrinken, sonst bist du nicht mein Freund.

Es heißt ja, Alkohol verbindet – was ersetzt denn das Verbindende, wenn kein Alkohol mehr im Spiel ist?

Gespräche. Man könnte ja mal ein nüchternes, schönes Gespräch führen ohne Alkohol. Das tun wir aber selten. Die wenigsten Menschen sind in der Lage, sich nüchtern zu öffnen und vernünftige Gespräche zu führen. Ich bin sogar ganz gerne mit trinkenden Menschen zusammen, weil die entspannter sind als wenn sie nicht trinken.

Wie sehr ändert sich der Freundeskreis?

Im Familien- und Freundeskreis werde ich auf Partys gar nicht mehr eingeladen. Die wissen, ich sehe, dass sie zu viel saufen. Ich gehe nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt. Aber natürlich sehe ich, wie Familienmitglieder sich abschießen, dass es unfassbar ist. Es tut mir auch weh, das zu sehen. Ich sage nichts, aber sie sehen meine Blicke und ich kann mich da auch nicht komplett zurückhalten.

Nichttrinker gelten oft als Langweiler – wie fühlt es sich im Vergleich an?

Menschen haben das Vorurteil, dass Nichttrinker langweilig sind und das mag auch auf einige zutreffen. Ich bin sicher nicht langweilig, aber ich bin längst nicht mehr so wild wie damals unter Alkohol. Und das ist gut so. Ich höre trotzdem so Sachen wie: „Ach komm, nicht trinken ist ja auch langweilig.“ Und sage: Ne, das ist nicht langweilig, das ist einfach nur in deinem Kopf. Das hat nichts mit der Realität zu tun. Mit mir kann man sich immer unterhalten, man kann tanzen gehen oder Party machen – halt ohne Alkohol. Das ist der einzige Unterschied.

Woran liegt dieses Denken?

Wir werden alle von der Alkoholindustrie mit Werbung zugeballert, seitdem wir denken können. Kein Sonnenuntergang ohne Bier, kein Fußballspiel ohne Bier, kein Segelausflug ohne Bier. Wir kennen das von Werbespots, wo die Leute nur glücklich sind, weil sie ein Bier in der Hand haben. Das ist ein Volksglaube – der wird nicht hinterfragt, weil alle mitmachen.

Sie machen jetzt Yoga, meditieren, trommeln – könnte für manche esoterisch klingen. Wie sehr hat das geholfen, vom Alkohol wegzukommen?

Mir absolut. Alkohol stopft so eine Art Loch in einem – jeder Mensch hat eine Sehnsucht nach mehr, nach etwas anderem. Und Alkohol ist eine Möglichkeit, dieses Loch zu stopfen. Bei mir hat spirituelle Arbeit dieses Loch gestopft. Ich glaube, dass viele dieses Loch spüren, ob in der Arbeit oder sonst wo. Alkohol ist eine allgemein anerkannte Möglichkeit, die tatsächlich wirkt. Gegen die Wirkung von Alkohol gibt’s nichts zu sagen – das Zeug wirkt super. Aber es ist halt nicht richtig gesund und tut der Seele nicht gut.

Sie gehen zu den Anonymen Alkoholikern – alleine dort hinzugehen, ist ja schon ein Eingeständnis, dass man ein Alkoholproblem hat. So manchem ist das zwar bewusst, trotzdem ist die Hemmschwelle groß, zu einem Treffen zu gehen. Warum?

Der Begriff Alkoholiker ist so wahnsinnig belastet. Kein Mensch will Alkoholiker sein. Unser Bild ist aber schief: Ein Alkoholiker ist für uns jemand, der komplett abgeschmiert ist. Der alles verloren hat. Der wirklich nicht mehr ohne Alkohol leben kann. Bei uns 10 Mio. deutschen Vieltrinkern ist das nicht so: Wir gehen noch zur Arbeit, wir müssen nicht morgens trinken, da ist alles im Rahmen – und trotzdem haben wir ein Alkoholproblem. Auch, wenn man nicht das Bild des klassischen Alkoholikers erfüllt. Natürlich ist die Hemmschwelle riesig – wer will schon zu einer Selbsthilfegruppe gehen? Bis man da ist und sieht, die sind ganz normal. Von allen, die ein Alkoholproblem haben, suchen sich nicht einmal 10 Prozent Hilfe, welcher Art auch immer. Einfach mal darüber reden und sich nachher eingestehen: Das Zeug hab ich nicht im Griff – das hat mich im Griff.

Sie hatten in dem Jahr auch Rückfälle – wie wichtig waren diese für Ihre Entwicklung?

Total wichtig. Das geht allen so, die aufhören zu trinken, dass sie irgendwann vergessen, warum sie aufgehört haben. Man trinkt eine Zeit lang nicht und denkt sich: Ist doch super, ich hab’s im Griff! Und dann fängt man wieder an und der ganze Wahnsinn geht wieder los. Es gibt sehr wenige Alkoholiker, die keinen Rückfall haben. Man muss erfahren haben, wie es ist, wieder in die Spirale zu kommen und zu erkennen: Das habe ich jetzt nochmal erlebt, ich möchte jetzt wieder ohne Alkohol leben.

Inwiefern sehen Sie einen Auftrag an die Politik?

Die muss dringend was ändern: Alkohol muss teurer werden, die Verfügbarkeit muss sich ändern. Dass wir 24 Stunden am Tag Alkohol an Tankstellen kaufen können, ist unfassbar. Das muss dringend eingeschränkt werden. Eigentlich muss man auch Alkohol-Werbung verbieten: Zigaretten-Werbung ist ja auch verboten.

Was würden Sie Ihren Kindern raten? Welchen Umgang mit Alkohol würden Sie ihnen mit auf den Weg geben?

Das ist ganz schwierig (schnauft). Zu sagen, du sollst nicht trinken, ist Mist, weil man es dadurch wertvoller macht als es ist. Alkohol ist auch eine Familienkrankheit. Am besten so weit aufklären wie man kann – Kindern klarmachen, das Zeug macht abhängig, überlegt euch, wie viel ihr davon konsumiert. Möglichst locker damit umgehen und vor allem nicht vorleben, dass Alkohol normal ist oder es bagatellisieren. Jeden Abend vor den Kindern beim Wein sitzen, ist sicher nicht günstig.

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