Stalingrad-Akten: Auf den Spuren österreichischer Soldaten

Stalingrad-Akten: Auf den Spuren österreichischer Soldaten
Österreichische Historiker durften erstmals ins russische Militärarchiv in Moskau. Das hilft auch Angehörigen.
Von Uwe Mauch

Sie erinnert sich, dass sie mit der Hilfe ihrer Mutter einen Brief geschrieben hat: Lieber Vater! Ich gehe schon in die Schule. Und sie weiß, dass er auf ihren Brief noch einmal geantwortet hat. In einem seiner letzten Feldbriefe, der im Winter 1942/’43 aus dem schwer umkämpften Stalingrad das ferne Laa an der Thaya erreichte, notierte er: Wir kauen an Baumrinden, damit uns die Zähne nicht ausfallen. Es gibt hier nichts Essbares mehr, nicht einmal Hunde oder Katzen! Wenn nicht von irgendwo bald Hilfe kommt, sind wir verloren! Der Krieg ist längst verloren!

Hildegard Kralicek ist eine von jenen 500 Österreichern, die sich seit Ende Jänner an das Institut für Kriegsfolgenforschung gewandt haben, mit der Bitte um Auskunft. Zuvor hatte ein Forscherteam rund um den Grazer Historiker Stefan Karner erstmals Zugang zu Akten des russischen Militärarchivs in Moskau erhalten. Diese dokumentieren den Verbleib österreichischer Soldaten in und rund um Stalingrad (seit 1961 Wolgograd).

Stalingrad-Akten: Auf den Spuren österreichischer Soldaten

Antwort auf ihre Frage

Bei Frau Kralicek, die im Februar ihren 82. Geburtstag gefeiert hat, läutete vor Kurzem das Telefon – und „die Frage, die mich seit meiner Kindheit quälend begleitet“, wurde endlich beantwortet. Ja, in den Akten findet sich der Name ihres Vaters. Historiker Harald Knoll hatte folgenden Eintrag gefunden: Seidl, Matthias, geboren am 21. 3. 1912, verstorben am 4. 4. 1943, im „Lager 98“, in Kapustin östlich von Stalingrad.

„Mein Vater ist gerade einmal 31 Jahre alt geworden“, berichtet Hildegard Kralicek im Gespräch mit dem KURIER. Vor dem Krieg habe er als Mälzer in der Hubertus-Brauerei und Nebenerwerbsbauer in Laa an der Thaya gearbeitet. Das einzige Foto, das sie von ihm hat, zeigt ihn als jungen, kräftigen Mann. Der Gedanke, dass er am Ende auf weniger als 60 Kilo abgemagert war, treibt seiner Tochter Tränen in die Augen.

Schemenhafte Erinnerungen

Sie erinnert sich schemenhaft, dass er kurz vor seinem Tod noch einmal auf Heimaturlaub in Laa war. „Später kamen dann zwei Männer in braunen Mänteln, die meine Mutter anbrüllten und ihr vorhielten, dass ihr Mann mit seinen Briefen das Volk verhetzt.“ Doch sie erinnert sich auch, dass ihre Mutter den Gestapo-Männern lautstark die Stirn bot. Und diese ihr mit dem Abtransport nach Dachau drohten.

Im Frühjahr 1942 gab es gar keine Nachrichten mehr vom Vater. Und es muss dann um die Weihnachtszeit gewesen sein, als der Postler die Vermisstenmeldung brachte. Auch an diesen Moment kann sich die Zeitzeugin gut erinnern: „Meine Mutter hat mich zu sich gerufen. Weinend hat sie mir erklärt, dass der Papa nicht mehr nach Hause kommen wird.“

Irgendwann wurde seine Todesmeldung zugestellt. Dennoch ließen es sich Mutter und Tochter nach dem Krieg nicht nehmen, immer wieder mit der Bahn von Laa zum Wiener Ostbahnhof zu pendeln. „Mit einem Foto in der Hand standen wir in der Menge und warteten auf den Zug mit den Rückkehrern. Mutter sprach viele der Ankommenden auf ihren vermissten Mann an.“ Schrecklich war die Heimfahrt nach Laa, weiterhin mit der Ungewissheit im Gepäck.

6. Armee

Tatsächlich war Matthias Seidl schon seit April 1943 tot. Professor Stefan Karner berichtet, dass sich unter den Soldaten der 6. Armee, die in Stalingrad eingekesselt worden waren, mehr als 40.000 Österreicher befanden, überdurchschnittlich viele aus Wien und Niederösterreich. Nach der Kapitulation Anfang Februar 1943 gerieten Tausende in Kriegsgefangenschaft. Von ihnen kehrten nur rund 1000 nach Österreich zurück. „Von den meisten anderen fehlte bislang jede Spur.“

Viele starben an den Folgen der Kriegshandlungen oder an den entsetzlichen Bedingungen im Lager. Karners Team hat bis dato 3000 Namen von Österreichern gefunden. „Das ist gewiss nur ein Bruchteil, aber über ihr Schicksal können wir jetzt Endgültiges sagen.“

Gewissheit

Ein Glück im Unglück jener Menschen, die so wie Frau Kralicek jahrzehntelang darunter litten, nichts Genaues über das Leben ihrer Vorfahren zu wissen. „Wenn uns die Lehrer in der Schule nach unseren Eltern gefragt haben, habe ich gesagt, dass mein Vater noch vermisst wird.“ Nur schwer konnte sie sich mit dem Gedanken anfreunden, dass er gefallen ist. „Er hat zu meiner Mutter gesagt, dass er sicher aus dem Krieg zurück kommen wird, auch wenn es vielleicht mehrere Jahren dauern wird.“

INFO: Die Mitarbeiter des Instituts für Kriegsfolgenforschung stehen für weitere Anfragen zur Verfügung.

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