Sardinien: In diesem Dorf sind alle Häuser Leinwände

Es gibt auch abstraktere Wandgemälde.
Zusammenfassung
- Pinuccio Sciola verwandelte 1968 sein Heimatdorf San Sperate in ein Freilichtmuseum mit über 200 Wandmalereien.
- San Sperate ist bekannt für seine 'Murales', die realistische und abstrakte Szenen darstellen und in den Haupt- und Nebenstraßen zu finden sind.
- Sciola schuf auch die 'singenden Steine' im Giardino Sonoro, die durch Berührung Töne erzeugen und die Erinnerungen Sardiniens bewahren.
Ab Cagliari, der Hauptstadt Sardiniens, geht es flach mit dem Auto dahin. Nach der Ortstafel des weniger als achttausend Einwohner zählenden Ortes San Sperate sieht es zunächst unspektakulär aus. Auf der einen Seite eine Tankstelle, auf der anderen ein Supermarkt, die Häuser in orangen und pfirsichfarbenen Tönen. Doch bei der nächsten Tankstelle – nur hundert Meter weiter – sieht man schon, weswegen man hier ist. Weswegen das unscheinbare San Sperate im Landesinneren berühmt geworden ist.
Wegen der Wandbilder, „Murales“ genannt. Manu Invisible zeichnete 2013 für das Bild auf der ehemals weißen Hausfassade hinter der Tankstelle, das eine Straße, Bäume und Häuser in Grauschattierungen zeigt, verantwortlich. Der 35-Jährige ist ein international geschätzter Graffiti-Export der italienischen Insel. Setzt man den Weg auf der Straße fort, strahlen einem reife Pfirsiche auf blauem Hintergrund entgegen. Der Schriftzug „San Sperate Paese Museo“, (deutsch: San Sperate Museumstadt) verrät, wo man sich nun befindet: in einem Museum. Der ganze Ort ist eine frei zugängliche Kunstgalerie.
Verblasster Alltag
Auf den Fassaden sind etwa Fenster und Torbögen aufgemalt, so realistisch, dass man zweimal hinschauen muss, um sie als Malerei zu identifizieren. In den Fensterscheiben spiegeln sich Vögel, eine Nonne bringt gerade zwei Kinder zur Schule – eine imaginierte Alltagsszene aus längst vergangener Zeit. Männer auf einem Karren, gezogen von einem Esel. Auf der Fassade einer Bäckerei eine Frau, die Brot in den Holzofen schiebt. Eine christliche Prozession der Dorfbewohner. Doch es sind nicht nur figurale, realistische Darstellungen, die die zum Teil bereits abbröckelnden Fassaden der Gebäude zieren: Da sind abstrakte, nackte Frauenkörper, symmetrische und asymmetrische Tiere, 3-D-Formationen, Kampfszenen, Muster auf den privaten Häusern. Manche sind bunt, andere bestehen nur aus schwarzen Linien, manche strahlen, andere sind verblasst.
Man muss die „Murales“ gar nicht erst suchen, sie sind in den Hauptstraßen, in den Nebenstraßen und in den Gässchen, des sonst ruhigen Örtchens, in dem erstaunlich viele Alltags-Radfahrer unterwegs sind. Einer davon ist auf einer Fassade abgebildet, es ist Giuliu Suddes, geboren 1913, er war bis zu seinem Tod 2018 mit dem Rad unterwegs.

Es gibt auch abstraktere Wandgemälde.
Der Ort wird bemalt
Die Transformation des Ortes – der auch für seine Pfirsiche berühmt ist – vom landwirtschaftlich geprägten, lehmbraunen hin zum bunten Künstlerdorf begann 1968. Der Künstler und Bildhauer Pinuccio Sciola kehrte nach Studienreisen und Ausbildungsaufenthalten (etwa in Salzburg als Teilnehmer der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst) wieder in seinen sardischen Geburtsort San Sperate zurück und wollte dort die Zukunft gestalten – gemeinsam mit den Bewohnern. Freunde unterstützten ihn, die Lehmwände mit Kalkschichten zu überziehen. Das blendende Weiß erschien wie Leinwände und die ersten Wandbilder entstanden.

Viele „Murales“ zeigen Alltagsszenen. Man findet sie in fast allen Straßen von San Sperate.
Heute sind es etwa zweihundert, die von den Einwohnern, sardischen und internationalen Künstlern gestaltet wurden. Ausgehend von San Sperate breiteten sich die Wandmalereien in anderen Orten Sardiniens aus – etwa in Orgosolo, wo hundertfünfzig Wandgemälde Emotionen und Proteste widerspiegeln. Sciola wurde 1973 von der UNESCO nach Mexiko eingeladen, wo die Kunstbewegung „Muralismo“ in den 1920ern entstand. Der Begriff bezieht sich auf Wandmalereien, die sozialkritische und historische Inhalte darstellen. Seit Sciolas Besuch bestehen Verbindungen zwischen San Sperate und dem Viertel Tepito in Mexico-City.
Anreise
San Sperate liegt ca. 20 km nordwestlich von Cagliari. -Kompensation für den Flug von Wien 14 Euro, atmosfair.de
Klanggarten
Von Apr. bis Okt. täglich geöffnet, Tickets unter psmuseum.it.
Die Pinuccio Sciola Stiftung wurde 2016 nach dem Tod des Künstlers gegründet. fondazionesciola.it
550 n. Chr. – In diesem Jahr kamen die Reliquien des Hl. Speratus in das Gebiet des heutigen Ortes.
Pfirsichfest Mitte Juli
Musik und Prozessionen, Häuser öffnen ihre Pforten für Ausstellungen oder Bewirtung.
Auskunft
sansperate.net
sardegnaturismo.it
Klingender Garten
Aber zurück nach San Sperate. Streift man durch den Ort, fallen auch zahlreiche Steinskulpturen auf. Sie sind von Pinuccio Sciola, der 2016 im Alter von 74 Jahren verstorben ist. „Skulpturen waren immer seine größte Liebe“, sagt seine Tochter Maria im Giardino Sonoro, dem klingenden Garten von San Sperate. Sciola brachte die Steine zum Singen. Maria demonstriert das, indem sie mit der Hand sanft über einen etwa zwei Meter hohen Kalkstein streicht, der mit Schlitzen versehen ist. Es klingt flüssig, sanft wie Wasser. „Die Steine waren unter Wasser, das hört man. Jetzt klingen sie anders als im Sommer, da sind sie leiser“, erklärt sie.

Der Künstler Pinuccio Sciola brachte Steine zum Singen.
Ihr Vater entwickelte die Theorie, dass Steine eine Stimme hätten, dass sie Erinnerungen bewahren würden – die Erinnerungen Sardiniens, denn seine „singenden Steine“ sind entweder Basalt oder Kalkstein von der Insel. Basalt klingt anders: „Mehr wie ein Schrei, der aus dem Untergrund kommt. Es ist ein Vulkangestein, es steht für Feuer“, die 36-Jährige nimmt einen Stein in ihre Hand, reibt ihn, „um Wärme zu erzeugen“ und führt ihn dann über eine Skulptur, dunkler und kleiner als die vorige, ein quadratisches Muster ist erkennbar. Im Giardino Sonoro kann man etwa siebenhundert Steinskulpturen von Pinuccio Sciola sehen, nicht von allen hat er die Stimmen hörbar gemacht.

Steinskulpturen waren die „große Liebe“ von Pinuccio Sciola.
San Sperate hat er in jedem Fall eine Stimme gegeben, eine, die nachhallt, auch wenn man die Tankstellen schon längst wieder hinter sich gelassen hat.
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