Alte Industrieanlage im Ruhrpott, Deutschland
Reise

Woanders ist auch schön: Ruhrpott zwischen Industrie und Fußball

Eine Tour mit dem Fahrrad von Dortmund via Bochum nach Essen zeigt: Der „Ruhrpott“ ist mehr als nur Bier und Fußball.

Wie Phoenix aus der Asche: Eigentlich ist die Schwerindustrie im Ruhrgebiet seit Jahrzehnten tot. Und doch spielt sie in den Inszenierungen der Künstler, der lokalen Politik, der Fußballer und der schlauen Touristiker noch immer ihre Rolle.

Beim Skywalk in Dortmund zum Beispiel: Da können die alten und teils verrosteten Rohre, Stiegen und Verbindungswege der Arbeiter von Himmelstürmern begangen werden. Sie bekommen unter anderem Einblicke in den ehemaligen Hochofen. Der ist heute ein Denkmal der Industriegeschichte.

Schriftzug #Phoenix des Lumieres vor dem Museum

Schwerindustrie und Bergbau waren einmal: Heute ist in ehemaligen Hochofenwerken Kunst zu sehen – zum Beispiel im Phoenix des Lumières in Dortmund.
 

©Uwe Mauch

Der ältere Mitarbeiter einer privaten Security-Firma erinnert sich, dass er selbst noch eine Schnupperlehre im Stahlwerk absolviert hat, ihm seine Eltern dann aber verboten haben, dort weiter zu arbeiten. Heute ist er froh darüber: „Das ging in den 1980ern den Bach runter.“ Gut erinnert er sich an einen Slogan, der damals geprägt wurde und der die entspannte direkte Mentalität der Menschen im Ruhrgebiet auf den Punkt bringt: „Woanders is auch scheiße.“ Er sei in jungen Jahren aktiver Fan von Rot-Weiß-Essen gewesen: „Rot-Weiß oder Schwarz-Weiß, das war unser Derby, und es war jedes Mal eine Frage der Ehre.“

Was man vor einer Reise in den „Ruhrpott“ wissen muss: Fußball spielt hier eine zentrale Rolle. Wenn nicht der erste, dann dreht sich der zweite Satz um das Runde, das ins Eckige muss, und das nicht nur bei Männern.

Hauptsache Fußball

Jeder und jede hat seinen beziehungsweise ihren Verein. Die Borussia im Süden von Dortmund ist längst abgehoben von allen anderen. Hier ist Fußball die neue Industrie. Alles ist mega: Die Gehälter der Millionenfußballer, die Photovoltaik-Anlage auf dem Dach des Stadions, die Ticketpreise, das Stadion an sich. Es wirkt innen wie außen mächtiger als drei Rapid-Wien-Stadien.

Neben der weithin sichtbaren schwarz-gelben Festung erinnert die „Fanwelt“ an ein Einkaufszentrum. Selbst der riesige Fahrrad-Parkplatz ist hier die Inszenierung eines Superlativs.

Kleinere, dafür lieblichere Brötchen bäckt man beim Reviernachbarn VfL Bochum. Die Mannschaft ist aus der ersten Liga abgestiegen und auch in der zweiten Liga denkbar schlecht unterwegs. Dennoch kommen zum Heimspiel fast fünfundzwanzigtausend Bochum-Fans, alle in Blau-Weiß. Auf einer Werbetafel steht: „Bochum. Nicht die Welt. Aber unsere.“ Die Fans singen mit Herbert Grönemeyer: „Du bist keine Schönheit.“ Und im Stadion sagt wieder jemand: „Woanders is auch scheiße.“

Fußballstadion bei einem Spiel von VfL Bochum

Im Stadion von VfL Bochum. Fußball ist alles, egal ob der Verein gut oder schlecht spielt. 

©Uwe Mauch

Viel Grün, viel Peripherie

Von einem zum anderen Stadion, von einer in die andere Stadt kann man fast durchgehend auf Radwegen fahren. Eine weitere Überraschung des Potts sind die vielen Stadtwälder und Parks. Noch in Dortmund, fast schon in Bochum, erzählt ein älterer Hobby-Radrennfahrer stolz: „Wenn wir eine achtzig Kilometer lange Tour machen, fahren wir bis zu achtundsiebzig Kilometer im Grünen.“

Radbrücke im Ruhrgebiet

Durch den Ruhrpott führen von einer in die andere Stadt fast durchgehend Radwege, durch viel grüne Peripherie. Die kann aber manchmal auch hässlich sein.

©Uwe Mauch

Nach Bochum fährt er offensichtlich nie. Hart an der Grenze, hinter der modernen Technischen Universität Dortmund und IKEA, liefern sich die beiden Städte einen brutalen Wettbewerb, wer die hässlichere Peripherie hat.

Bochum war über Jahrzehnte auch Bergbau. Heute ist der Abbau von Steinkohle nur mehr im fast hundert Jahre alten Museum zu sehen. Der monumentale Bau steht in einer ruhigen Villen-Park-Landschaft. Der Rundgang durch den als Stollen gestalteten Keller bietet Abkühlung an heißen Tagen.

Alter Bergewagen

Kohle wird nicht mehr abgebaut, Einblicke in die Bergwerke gibt es trotzdem.

©Uwe Mauch

Keine Kohle mehr

„Glück auf!“ begrüßt einer der Aufseher, der sich als unaufgeregter Intellektueller zu erkennen gibt. Der Niedergang des Bergbaus, sagt er, habe bereits 1958 begonnen. Dass man auch das bittere Ende der Stahl- und Autoindustrie einigermaßen gut verkraftet hat, sei ausnahmsweise mal einer vorausschauenden Politik zu verdanken. Auf dem Areal des aufgelassenen Opel-Werks arbeiten heute mehr Menschen als zuvor: Hoch Qualifizierte, aber auch Mitarbeiter in der Logistikbranche.

Und warum wirken die Menschen im Ruhrgebiet so entspannt und weltoffen? Auch dafür hat der Museumsmitarbeiter eine Antwort: Die Arbeitsmigration, der Kontakt mit Fremden, habe hier schon im 19. Jahrhundert begonnen. In der Zeche musste man sich auf seinen Kumpel verlassen können. Da war es egal, wo der zur Welt kam. Auch waren die Innovativen immer gefragter als die Konservativen. Experimentelle Künstler hatten es leichter, weil sie sich nicht gegen eine Tradition behaupten mussten. Der museale Förderturm Germania erlaubt einen Rundblick über das Ruhrgebiet: Mehr als fünf Millionen Menschen wohnen im Ballungsraum. Denen blieben einige Fehler anderer europäischer Großstädte erspart: Gentrifizierung und Overtourismus gibt es noch nicht. Allgemein vermitteln die Städte im Revier: Viel Peripherie, wenig historische Stadtkerne.

Info

Anreise 
Mit dem ÖBB-Nightjet von Wien nach Hamm. Von dort weiter mit dem Rad oder Regionalzug (oebb.at,
bahn.de).

Unterkunft 
Tagungshotel Moxy: stylish, zentrumsnah,  Stadion des VfL Bochum, Messe und  Deutsches Bergbau-Museum in der Nähe. marriott.com/de/ hotels/dtmbo-moxy-bochum

Kulinarik 
– Frühstück: Küchen-Wirtschaft Bismarck in Dortmund (bismarck-do.de). 
– Currywurst in der Bochumer Kult-Pommesbude „Dönninghaus“ (dieechte.de). 
– Kulinarisch kein Highlight, aber sehr authentisch: „Bermuda3eck“ in Bochum.

Auskunft
germany.travel

Der Zweite Weltkrieg hat viel zerstört. Die Perlen gilt es zu finden. Auch in Essen. Die Radfahrt dorthin verlangt zunächst die Fähigkeit, auch mal Ortsansässige nach dem Weg zu fragen. Die „Zeche Zollverein“ ist das wert. Der ehemalige Bergbau-Komplex ist heute UNESCO-Welterbe – und das vielleicht leuchtendste Beispiel einer sehr lebendigen zeitgenössischen Kunstszene im Pott. Wichtigste Botschaft des darin integrierten Ruhr-Museums: Das Ruhrgebiet hat weder politische noch natürliche Grenzen und ist dennoch fest in den Köpfen der hier lebenden Menschen verankert. Ihre Vorfahren haben stark in die Natur eingegriffen, haben Halden, Senkungen und künstliche Seen geschaffen.

In der Dauerschau wird erklärt, warum man hier die klassischen Stadtkerne vergeblich sucht. Die ersten Orte bildeten sich nicht um Kirchen- und Adelssitze, sondern um Industrieanlagen. Ein Schmankerl der Ausstellung, sozusagen das Sahnehäubchen: die ikonische Jacke, die der Schauspieler Götz George als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski einst trug.

Jacke von Tatort Kommissar Horst Schimanski in einer Vitrine im Museum

Links: Die Jacke, die Götz George als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski trug. 

©Uwe Mauch

PS: Diese Pott-Tour lässt sich auch mit Bus, Bahn und Bim leicht bewältigen. Woanders is auch schön. Aber hier manchmal auch.

Uwe Mauch

Über Uwe Mauch

Uwe Mauch, geboren 1966 in Wien, seit 1995 Redakteur beim KURIER, Autor lebensnaher Porträts und Reportagen sowie zahlreicher Bücher, unter anderem: "Unsere Nachbarn", "Wien und der Fußball", "Lokalmatadore", "In 80 Arbeitstagen um die Welt", "Stiege 8/Tür 7. Homestorys aus dem Wiener Gemeindebau", "Die Armen von Wien" (2016) sowie eines "Wien"- und eines "Zagreb"-Stadtführers.

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