Flucht in die Karibik: Warum Cartagena de Indias einen Besuch wert ist

Auf der einen Seite die Altstadt mit Stadtmauer, Uhrturm und Kolonialhäusern. Auf der anderen Seite Bocagrande, das Finanz- und Ausgehviertel der Stadt
Auf der kleinen Restaurantbühne schnulzt ein Sänger ins Mikrofon. Die Kellnerinnen wippen im Takt, servieren den Gästen weißen Fisch in üppiger Kokossauce mit süßem Kokosreis. Eine Gruppe Frauen in weißen Leinenkleidern jubelt dem Sänger euphorisch zu, bestellt eine Zugabe – und noch eine Flasche Rotwein. „Ist das ein Junggesellinnenabschied?“, fragt eine Tischnachbarin. „Oder ein ganz normaler Dienstagabend in Cartagena?“
Cartagena de Indias, die Stadt im Herzen der kolumbianischen Karibik, ist für vieles bekannt: ihr pulsierendes Nachtleben, ihre bewegte Kolonialgeschichte, ihre prachtvolle Architektur, die – so sagt man – in ganz Südamerika ihresgleichen sucht.
„Perle der Karibik“ wird Cartagena wegen ihrer Schönheit genannt. So strahlend und schillernd, dass sie ihre Reichtümer jahrhundertelang gegen Piraten und Plünderer verteidigen musste. Zu kostbar, um je von Guerilla- und Drogenkriegen befleckt zu werden. Und so auf Hochglanz poliert, dass man ihr vorwerfen könnte, zum Touristen-Accessoire verkommen zu sein.
Bunte Kolonialhäuser
Ein Besuch beginnt meist im historischen Zentrum, das seit 1984 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört. Schon der mächtige, rapsgelbe Uhrturm, das Haupttor zur ummauerten Altstadt, zeugt vom Stolz der Erbauer. Wer ihn durchschreitet und die Plaza de los Coches betritt, quasi das Foyer der Stadt, fühlt sich für einen Moment in ein anderes Jahrhundert versetzt: Zuckerlbunte Kolonialhäuser reihen sich aneinander, Stadtpaläste präsentieren ihre blühenden Balkone und kunstvollen Arkaden, kopfsteingepflasterte Gassen schlängeln sich vorbei an romantischen Patios. Auf den Plätzen herrscht trotz tropischer Hitze reges Treiben. Autos sucht man vergeblich, nur ab und zu rumpelt eine Pferdekutsche vorbei. Über all dem Trubel wacht die imposante Festung San Felipe de Barajas, ein Musterstück spanischer Militärarchitektur und bis heute nahezu vollständig erhalten.
Für den Schutz Cartagenas, so erfährt der Besucher rasch, wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Die strategisch günstige Lage machte die Stadt in der Kolonialzeit zum wichtigsten Umschlagplatz für Handelsgüter zwischen der Neuen und der Alten Welt. Aber auch der Sklavenhandel brachte der einstigen Hauptstadt des Vizekönigreichs Neugranada immensen Reichtum, den es über die Jahrhunderte zu verteidigen galt. Eine dicke, elf Kilometer lange Stadtmauer wurde errichtet, eine Unterseemauer schützte die Hafeneinfahrt vor Eindringlingen.
Touristisches Zentrum
Heute sind es Reisende, die zu den Schätzen der Stadt drängen. Pech hat, wer zeitgleich mit einem Kreuzfahrtschiff anlegt. Dass man nicht in einem Roman von Gabriel García Márquez, Literaturnobelpreisträger von 1982 und bekanntester Amante der Stadt, sondern im Touristenzentrum Kolumbiens gelandet ist, merkt man ohnehin spätestens beim zweiten „A la orden“, mit dem fliegende Händler ihre Waren anpreisen. Wer will, füllt die Taschen mit Magneten und Selfie-Sticks. Für fünf US-Dollar gibt es ein Foto mit den Palenqueras (siehe oben), mit ein paar Nullen mehr Designerware, Botoxspritzen und Casino-Nächte in Bocagrande, dem Luxusviertel der Stadt mit Diskotheken, Schönheitssalons und Einkaufszentren auf einer Landzunge. Auch in der Altstadt sind inzwischen fast alle Häuser in Airbnbs, Boutiquehotels und Shops verwandelt worden.
Abschrecken lassen sollte man sich von all dem Kitsch und Kommerz nicht. Die Menschen kommen nach Cartagena wegen der Schönheit und des Glamours, aber sie bleiben wegen der Geschichte, der Kultur und der Einwohner, die für ihre Großherzigkeit bekannt sind.
In der Hafenstadt schlägt das kulturelle und kreative Herz Kolumbiens. „Cartagena de Indias ist eine Stadt, die sie über vierhundert Jahre lang zerstören wollten und die heute lebendiger ist als je zuvor“, hat es „Gabo“ einst genannt.
Hier sieht man Weiße mit Afro, Schwarze mit hellen Augen, Indigene mit hellen Haaren
Mit ihrer Kolonialgeschichte, so scheint es, hat sich die Stadt überraschend versöhnt. Heute ist man stolz auf die eigene Identität, zelebriert den Mix aus indigener, afrikanischer und europäischer Kultur. Musik, Kunst, und Brauchtum schöpfen aus allen drei Kontinenten – und sind heute so bunt und vielfältig wie die Stadt und die Cartageños selbst. „Hier sieht man Weiße mit Afro, Schwarze mit hellen Augen, Indigene mit hellen Haaren“, schwärmt ein Local von den Söhnen und Töchtern der Stadt.
Fischsuppe und Milchbonbons
Auch die lokale Gastronomie wird hoch gelobt. In den Spitzenrestaurants der Stadt werden gegrillter Oktopus und Languste, herzhafte Fischsuppe, erfrischendes Garnelen-Ceviche serviert. In kleinen, schummrig beleuchteten Lokalen gibt es fangfrischen Fisch und frittierte Leckereien für umgerechnet ein paar Euro, am Portal de los Dulces hausgemachte Süßigkeiten: Milchbonbons, Tamarindenkugeln oder Cocadas aus Kokosraspeln. Auf der Stadtmauer trifft man sich zum Sundowner mit Blick auf die karibische See.
Apropos Meer: Den Stadtstrand kann man auslassen. Dafür locken die nahe gelegenen Postkarteninseln Isla de Barú, Islas del Rosario oder Isla de Tierra Bomba mit kristallklarem Wasser und weißen Sandstränden.

Karibikstrände: Die nahe gelegenen „Islas del Rosario“ bestehen aus 28 Inseln
Authentisches Getsemaní
Sehenswert ist auch das ehemalige Armenviertel Getsemaní. Chaotischer und abgelebter ist es. Aber auch authentischer und lebendiger. Hier darf die Stadt noch Makel haben, die Straße noch Löcher, die Fassade noch Risse. Hier spielen die Kinder auf den Plätzen Fußball und dröhnt abends die Telenovela aus dem Wohnzimmer ins Freie. „Hier wohnen tatsächlich noch Einheimische“, sagt Stadtführerin Luisa. Das Viertel war einst die Wiege der Unabhängigkeitsbewegung. Heute ist es bekannt für seine Graffiti und Girlanden, Musiker und Tänzer, die der Menge auf der rappelvollen Plaza de la Trinidad einheizen.
Auch das Restaurant in der Altstadt ist inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt. Noch vor dem Dessert hat ein Paar die Tanzfläche zwischen den Tischen erobert. Ein Gast wird mit Maracas, traditionellen Rumba-Rasseln, auf die Bühne gebeten. Auf der Straße hallen die Rhythmen von Vallenato und Chambeta (afrokolumbianische Tanzmusik) über die Stadtmauer und mischen sich mit den Reggaeton-Beats eines Partybusses (Chiva). Nein, ein ungeschliffenes Juwel ist Cartagena nicht mehr. Das Schmuckkästchen Kolumbiens ist dennoch immer einen Besuch wert.
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