Hannover: „Die chillige kleine Schwester von Berlin“

Hannover: „Die chillige kleine Schwester von Berlin“
Die niedersächsische Landeshauptstadt wird gerne als die langweiligste Stadt Deutschlands abgetan. Warum sie das nicht ist.
Von Uwe Mauch

Vom Denkmal des hierorts hochverehrten Welfenprinzen Ernst August auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs via Opern- und Rathaus zum ebenso repräsentativen Leine-Schloss und durch die nach 1945 mehrheitlich wiederaufgebaute Altstadt zurück: Der Kern von Hannover lässt sich auf einem roten Faden erkunden. Er ist auf dem Asphalt markiert, 4.200 Meter und 36 Stationen lang und – ganz ehrlich – nicht durchgehend spektakulär.

Ja, es gibt Städte mit mehr Sehenswürdigkeiten, mehr Klang, Image, mehr Anziehungskraft. Und dennoch kann ein verlängertes Wochenende in der Hauptstadt des norddeutschen Bundeslandes Niedersachsen bereichernd sein.

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Also gut, um das jetzt auch noch offenzulegen: Der Autor dieser Zeilen (sein Vorname kann dafür als Indiz gewertet werden) ist befangen. Er hat Teile seiner Kindheit „bei Oma-Hannover“ verbracht. Hat dort als „Lüttje“ (ein kleines Kind auf Plattdeutsch) Radfahren im Stadtverkehr gelernt, war von diesem „Goldenen Westen“ im Vergleich zum 1970er-Jahre-Wien angetan, musste nur Omas Nachbarkindern, die auf ihr reines Hochdeutsch so stolz waren, mit „a bisserl“ Nachdruck erläutern, dass er kein Bayer ist.

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„Das Wunder von Hannover“

Im Foyer vom barockschlossähnlichen Neuen Rathaus, dessen Bogenaufzug in der Kuppel die Besucher und Besucherinnen staunen lässt, sind vier maßstabsgetreue Modelle der Stadt zu sehen.

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Jene von 1939 und 1945 sind nur wenige Schritte voneinander entfernt – und beeindrucken: In dieser Stadt, die heute wieder 532.163 Einwohner zählt, blieb nach vielen Monaten der alliierten Luftangriffe so gut wie kein Backstein auf dem anderen, 90 Prozent aller Gebäude wurden zerstört.

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Bei einem Angriff im Oktober 1943 brannte die Aegidienkirche aus dem 14. Jahrhundert aus. Ihre Mauerhülse dient heute als Mahnmal. Erstaunlich ist, wie schnell man die am Boden liegende Stadt nach dem Krieg wieder aufgebaut hat. Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, , von dem noch die Rede sein muss, wurde tatsächlich über „Das Wunder von Hannover“ berichtet. Das Wunder wurde zum geflügelten Wort.

In der Tat bot der Neubeginn Chancen. So durfte der politisch nicht unumstrittene Architekt Rudolf Hillebrecht in Hannover das damals moderne Konzept der autogerechtenStadt umsetzen. Er plante großzügige Ring-Schnellstraßen und autobahnähnliche „Schnellwege“.

Weil genügend Platz zwischen den neu errichteten Gebäuden gelassen wurde, konnten auch breite Gehsteige und gut geschützte Radwege angelegt werden. Drei Jahrzehnte früher als in Wien war das Fahrrad in Hannover eine Alternative zum Auto.

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Auch das Wahrzeichen, die von norddeutscher Backstein-Gotik geprägte Marktkirche, musste nach 1945 wieder aufgebaut werden. Ihr fast 100 Meter hoher Turm symbolisiert eindrucksvoll die Macht der evangelischen Kirche in diesen Breitengraden.

In der Fußgängerzone neben der Kirche erinnert sich der Autor, dass Quelle und Kaufhof alle West-Marken früher bieten konnten als Gerngross und Steffl in Wien.

Auch Gourmands müssen in Hannover nicht hungern. Einen Besuch wert ist in jedem Fall die Markthalle, wo auffallend viele Einheimische mittags in den italienischen und griechischen Restaurants tafeln.

Lokal-deftiges Essen, etwa den "Calenberger Pfannenschlag" (eine spezielle Kochwurst aus Haferkörnern, gekochtem Schweine- und Rindfleisch sowie Zwiebeln und kräftigen Gewürzen) oder auch "Grünkohl mit Bregenwurst und Salzkartoffeln", bietet dagegen das auf das Jahr 1576 zurückgehende „Broyhan Haus“ mit seinem holzgetäfelten Gastraum in der Kramerstraße.

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„Kokolores“ und die Liebe zu Berlin

Mitten drinnen schwärmt die Stadtführerin Tamara Podesky: „Hannover ist die kleine chillige Schwester von Berlin.“ Faktum ist, dass ihre Heimatstadt eng mit Berlin und Hamburg vernetzt ist, die Sympathie aber zur Hauptstadt tendiert. Beide Metropolen sind rund eineinhalb Zugstunden von Hannover entfernt.

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Podesky, die – wie viele – selbst jahrelang mit der Bahn zur Arbeit nach Hamburg gependelt ist, will „eine gewisse Überheblichkeit der Hamburger gegenüber Hannover“ beobachtet haben. Und das Image, wonach Hannover die langweiligste Stadt Deutschlands wäre, hält sie für „Kokolores“ (Unfug). Viel lieber führt sie zu Hannovers Besonderheiten.

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Zum Beispiel zum Maschsee. Der ist von der Altstadt zu Fuß gut erreichbar und ist für die Hannoveraner was für die Wiener die Donauinsel ist. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass dieses künstliche Gewässer auf die Nazis und deren Arbeitsbeschaffungsprogramm zurückgeht.

Radfahrer, Skater, Läufer, Spaziergänger, Wassersportler, alle streben zum künstlichen See neben dem schmalen Fluss, der Leine genannt wird. Stolz sind die Hannoveraner auch auf ihr modern ausgebautes Niedersachsen-Stadion und die Fußballer von „96“, die trotz langer sportlicher Durststrecke überall als ein echter Stolz der Stadt angesehen werden.

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Nur wenige Schritte weiter befindet sich das in der Kunstwelt angesehene Sprengel-Museum mit dem Schwerpunkt auf deutschen Expressionismus und französische Moderne. Zu bedauern ist lediglich, dass das 1851 von Carl August Bernhard Sprengel gegründete Unternehmen 1986 seine Schokoladenproduktion einstellen musste.

Ältere Hannoveraner erinnern sich noch mit feuchten Augen an die Sprengel-Tafeln. Sie müssen sich mit ihrem Landsmann Hermann Bahlsen trösten und einer noch aktiven Kekse-Fabrik etwas außerhalb von Hannover.

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Die „Verbindung mit London

Etwas weiter entfernt, aber gut mit Fahrrad oder Stadtbahn zu erreichen sind auch die repräsentativen Herrenhäuser Gärten. Apropos: Das Stadtbahn-Konzept in Hannover ist nach dem Dafürhalten seriöser Verkehrsexperten moderner als jenes der Wiener Linien: Sie fährt in dicht verbautem Gebiet unterirdisch wie eine U-Bahn und überall weit hinaus in die Peripherie als Tram mit barrierefreiem Einstieg.

Herrenhausen ist ein gepflegter Stadtteil in nordwestliche Richtung. Die sehenswürdigen Herrenhäuser Gärten und ihre Schlossgebäude zeigen eindrucksvoll, warum die englische Königsfamilie reichlich Gene der Welfen aus Hannover in sich trägt, und vice versa.

Stolz erzählt die Stadtführerin dort: „123 Jahre lang waren die Könige von Hannover in Personalunion auch die Herrscher des britischen Empires.“

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Auf dem Rückweg bietet sich noch ein Abstecher zum Wilhelm-Busch-Museum an: Der Schöpfer von Max & Moritz hat kurz auch in Hannover studiert, der Legende nach auch intensiver die städtischen Gastwirtschaften.

Der Humor in Hannover, ein schwieriges Thema für gebürtige Ösis: Vorsicht ist insofern geboten, als man in Hannover vieles für bare Münze nimmt und schnell einmal entsetzt ist, wo unsereins längst das Augenzwinkern im Wortsinn erkannt hat. Und bitte auch keine Witze, wenn Hannoveraner stolz erklären, dass ihr Dialekt die Hochsprache ist und deshalb sogar Chinesen zum Sprachstudium in ihre Stadt kommen.

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Ankünder auf den Straßen Hannovers zeigen wieder einmal an: Die „Scorpions“ machen auf ihrer Konzert-Tour durch Europa Station in Hannover. Streng genommen sind sie schon da. Denn die meisten Mitgleider der Rockband sind Niedersachsen.

Weitere Vips aus Hannover:  Gottfried Wilhelm Leibniz (in erster Linie Universalgelehrter, aber natürlich auch ein gleichnamiges Butterkeks), Wilhelm Herschel (deutsch-britischer Entdecker des Planeten Uranus), die Philosophin Hannah Arendt und nicht zuletzt die aktuelle deutsche Außenministerin Annalena Baerbock.

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Und dann lasst uns noch beim Anzeiger-Hochhaus in der Nähe des Bahnhofs vorbeiflanieren: Hier haben zwei eng mit dieser Stadt verbundene Verleger Zeitungsgeschichte geschrieben:  Rudolf Augstein bringt unter der auffälligen Kuppel am 4. Jänner 1947 die erste Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel heraus, Henri Nannen lässt nur ein Jahr später hier den ersten Stern erscheinen.

Und stimmt es nun wirklich, dass Hannoveraner weitgehend schmähbefreit sind? Im „Broyhan Haus“ wird nach deftigem Menü 0,2 Deziliter „Maikäferflugbenzin“ kredenzt. Mensch, Uwe, das ist doch richtig lustig!

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Klimafreundliche Anreise: Geht gut mit der Eisenbahn. Hannover liegt auf dem Weg nach Hamburg, rund neun Stunden von Wien entfernt. Die Stadt verfügt über ein öffentliches Verkehrsnetz und auch Radrouten vom Feinsten.

Unterkunft: „Me and All“ am „Aegi“, also am Aegidientorplatz: zentral gelegenes Designerhotel. Infos: hannover.meandall-hotels.com.

Restaurants: Urig-deftig im „Broyhan Haus“ in der Kramerstraße; mittags ein Snack in der Markthalle; Dinner und dann Varieté  im GOP im Restaurant Gondel in der Nähe des Opernhauses.

Auskünfte: Auf der Seite germany.travel finden sich viele Hinweise zu Deutschlands Städten, unter anderem auch zu Hannover. Mehr Infos über die Stadt gibt es auf visit-hannover.com.

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