Estland: Warum man Tallinn vom Nullpunkt aus entdecken sollte

Eine Frau in historischer Kleidung steht in der Altstadt von Tallinn, Estland.
Hier verwundert nicht nur das längste Wort – sondern auch Kirchen, die als Museen genutzt werden, mittelalterliche Bars mit 1990er-Flair und Kerzen, zu denen Brot gereicht wird.

Es ist, wie soll man sagen, ziemlich schrill, das längste gebräuchliche Wort in Estland: sünnipäevanädalalõpupeopärastlõunaväsimatus. Es setzt sich aus mehreren Wörtern zusammen und beschreibt die Müdigkeit nach dem Mittagessen an einem Geburtstagswochenende.

Eine Karte der Ostsee mit den Ländern Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Russland und Schweden.

Tallinn, Estland

Eva-Maria, die geduldige Führerin einer sechsköpfigen Reisegruppe, wiederholt es mehrmals: sü-nni-päe-va-nä-dal-al-õpu-peo-pära-stlõ-una-väsi-matus. Aber vergeblich. Der Hunger ihrer müden Schützlinge ist zu groß. Aber kaum sitzen sie nach dem langen Sightseeingtag im Restaurant werden alle aufs Neue verwundert. Der Kellner stellt duftendes Brot auf den Tisch, serviert die Getränke und zündet eine Kerze an. Dann flüstert er in die Runde: „Just wait a second. Don’t eat the bread yet. I will be back.
Die Gruppe schaut irritiert, aber wartet brav auf das versprochene Signal. Nach einigen Minuten kommt er zurück, schaut prüfend auf den Tisch und sagt: „I think, now it’s time.“ Dann nimmt er eine Scheibe Brot, taucht sie in das geschmolzene Wachs der Kerze, beißt zu. Die Gruppe schaut verblüfft; er grinst kauend und geht. Nach einigem Gemurmel traut sich der Erste und siehe da: aus Kerzenwachs wurde Knoblauchpilz-Butter. Kurz genannt: Butterkerze. Die Esten verwundern.

Eine Frau steht auf einem Platz in Tallinn, Estland, mit historischen Gebäuden im Hintergrund.

Eva-Maria am Rathausplatz

Drehung für Einsteiger

So einen ausführlichen Besichtigungstag in Tallinn beginnt man am besten auf dem Nullpunkt der Stadt, sagt Eva-Maria. Das ist eine runde Steinplatte auf dem Rathausplatz im Zentrum der Altstadt. Man stellt sich auf die Platte, dreht sich langsam um die eigene Achse und schaut. Da ragt das über sechshundert Jahre alte gotische Rathaus in den Himmel. Und rundherum stehen alte Handelshäuser wie bunte Puppenstuben. Wo früher gehandelt wurde, wird heute mittelalterlich gegessen. Die Lokale am Rathausplatz servieren Honig- und Kräuterbier aus Tonkrügen, Gewürzwein und Wildgerichte. Der Blick wandert weiter und man sieht eine der ältesten betriebenen Apotheken der Welt, die Ratsapteek, aus 1422.

Der Rathausplatz in Tallinn, Estland, mit dem historischen Rathaus und belebten Straßencafés.

Das gotische Rathaus

Das gotische Rathaus

Der Eingang zum Restaurant „Olde Hansa“ in Tallinn mit einer Holzfigur davor.

Essen wie im Mittelalter

Essen wie im Mittelalter

Blick auf den Rathausplatz in Tallinn mit bunten Häusern und Straßencafés.

Die bunten Kaufmannshäuser am Rathausplatz

Die bunten Kaufmannshäuser am Rathausplatz

Ein Blick über die Dächer und Türme der Altstadt von Tallinn, Estland.

Blick von oben auf die Altstadt

Blick von oben auf die Altstadt

Daneben Gassen, die wo auch immer hinführen, aber man möchte ihnen folgen. Also verlässt man die Steinplatte und sucht sich eine Gasse aus. Nein, Eva-Maria sucht aus. Und zwar die Gasse, aus der ein verlockender Duft rüberweht. Die Wege führen vorbei an schweren Holztüren, die düster ausschauen. Manche stehen offen, dahinter dunkles Gewölbe. Dann wird der Duft stärker, es erscheint eine hippe Bäckerei, die gleichzeitig ein Café ist. Und im Fenster für jeden ersichtlich: Zimtschnecken, Rhabarbertörtchen, Sanddorn-Muffins und frisches Sauerteigbrot. Dazu einen Kaffee, dann geht es weiter.

Zwei Frauen spazieren durch eine Gasse in Tallinn, Estland.

Teile der Stadtmauer stammen aus dem 13. Jahrhundert. Links ist Guide Eva-Maria

 

Entlang der alten Wehrmauer, die sich um die hanseatische Altstadt schlängelt. Schmale Eingänge verbergen Galerien, Kunstateliers, Boutiquen, Bars und Souvenirläden. Und hinter der gewaltigen Kulisse: die Ostsee. Wo Fähren nach Helsinki ablegen oder Kreuzfahrtschiffe ankommen und Touristen absetzen, die auch in Tallinns Geschichte eintauchen und etwas über das Land und seine Menschen lernen möchten.

Das kreative Zentrum

Zum Beispiel, dass Kirchen in Estland für Ausstellungen, Konzertabende oder als Museum genutzt werden. Das liegt daran, dass die Estinnen und Esten nicht besonders religiös sind – zumindest nicht im kirchlichen Sinne. Sie haben eher eine enge Verbindung zur Natur. Und glauben an Mythen, Legenden und Volksweisheiten.
Schlagartig in die Gegenwart katapultiert wird Eva-Marias Gruppe, als ein Ohrwurm der 1990er aus einem dunklen Bareingang dröhnt. Mitten in einer der Gassen ist die Depeche Mode Bar. Von einem früheren Fan gegründet, laufen hier ausschließlich Hits der Band und die Getränke sind nach Songtiteln benannt.
Da es noch viel zu entdecken gibt, vertröstet Eva-Maria ihre Tanz- und Trinkmotivierten auf den Abend. Denn es soll noch das kreative Zentrum Telliskivi besucht werden. Kurze Nachmittagsmüdigkeitsrebellion, daher nur ein schneller Sprung in die Markthalle Balti Jaama Turg am baltischen Bahnhof. Dort ist kurz jeder für sich, man weckt sich mit Kaffee. Aber Eva-Maria hat ein Ziel und treibt die Meute Richtung Telliskivi.

Ein Graffiti zeigt einen Mann, der mit einem Skelett ein Selfie macht.

Streetart

Streetart

Das Dokfoto Keskus-Gebäude mit einem großen Wandgemälde eines Fotografen an der Fassade.

Dokfoto: Zentrum für Dokumentarfotografie

Dokfoto: Zentrum für Dokumentarfotografie

Ein Platz im Freien mit einer Stahlkonstruktion, Kunstausstellungen und dem Schriftzug „UDDU“ an einem Gebäude.

Kreativcampus

Kreativcampus

Ein bunt bemaltes Gebäude mit der Aufschrift „Vanavara - Antiquariat - Antique“ und einem Tischtennistisch davor.

Kunstrasen und Kunstwände

Kunstrasen und Kunstwände

Das Restaurant „Piatus“ besteht aus mehreren umgebauten Eisenbahnwaggons.

Das Waggonrestaurant Peatus

Das Waggonrestaurant Peatus

Ein Areal, wo Kunst gelebt wird

Buntbemalte Kunstbretter, die einen Zaun bilden, der einen Kunstrasen umgibt, auf dem ein Kunstbus steht, der als Kunstbar ausgebaut wurde. Davor Blumen in kunstvoll inszenierten Töpfen. Container mit Kunstateliers. Bunte Secondhand-Shops. Hier möchte man bleiben und kunstinspiriert werden. Aber es dämmert bereits, hungrig ist man auch und will keine komplizierten Worte nachsagen. Also weist Eva-Maria in ein Lokal. Auf den Tischen stehen brennende Butterkerzen.

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