Paul Eisenberg: "Ein Witz ist eine ernste Sache"

Paul Eisenberg: "Ein Witz ist eine ernste Sache"
Der langjährige Oberrabbiner über Unterschiede zum Priester und die Bedeutung von Traditionen.

Die Hälfte seines Lebens war Paul Chaim Eisenberg, 67, Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde in Wien – seit einem Jahr ist er in "Halbpension", wie er sagt. Die freie Zeit nutzte der sechsfache Vater und begnadete Geschichtenerzähler, um ein Buch über rabbinische Weisheiten zu schreiben. Die Ankündigung, das Gespräch trotz Wahl(-kampf) unpolitisch zu halten, erfreute den Wiener: "Gott sei Dank! Ich möchte ohnehin viel lieber über Witz sprechen." Na dann...

KURIER: Herr Eisenberg, was zeichnet einen guten Witz aus?

Paul Chaim Eisenberg: Ein guter Witz ist der, der eine Botschaft hat. Wissen Sie, ein Witz ist in Wahrheit eine sehr ernste Sache. Ein selbstkritischer jüdischer Witz, den ich sehr mag, ist der: Ein Jude erleidet Schiffbruch und strandet auf einer einsamen Insel. Ihm wird klar, dass er dort lange bleiben wird, und er beginnt, Haus und Garten zu bauen. Nach einigen Jahren kommen Menschen, um ihn zu retten. Er zeigt ihnen sein Haus, seinen Garten, eine Synagoge und dann noch eine Synagoge. Da sagen die Retter: Sie sind doch alleine, wozu brauchen Sie zwei Synagogen? Der Jude antwortet: Weil ich in die eine nie hineingehe. Das ist ein tiefgründiger Witz, keiner, bei dem man laut lacht. Er besagt, dass Juden manchmal auch stur sein können.

Der Grat zwischen einem jüdischen und einem antisemitischen Witz ist schmal, nehme ich an.

Ja. Deshalb ist es mir lieber, wenn Juden jüdische Witze erzählen.

Paul Eisenberg: "Ein Witz ist eine ernste Sache"
Interview mit Paul Chaim Eisenberg, in seiner Wohnung, von 1983 bis Juni 2016 Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien

Wenn Juden Eheprobleme haben, gehen sie zum Rabbi statt zum Therapeuten, heißt es. Wie würden Sie die Rolle des Rabbiners erklären?

Ein Rabbiner muss menschlich sein, er sollte heiraten und Kinder bekommen. Einmal hat mich ein Mann angerufen, er hatte Probleme in seiner Ehe. Ich habe ihn gefragt: Sind Sie Mitglied der Kultusgemeinde? Nein, sagte er, ich bin Katholik. Ich sagte: Na, dann gehen Sie doch zum katholischen Priester! Er antwortete: Der versteht nicht, wie problematisch eine Ehe sein kann. Die Beratung und zum Teil Mediation ist eine der schwierigsten Aufgaben. In der Tora heißt es: Wenn du Fragen hast, geh zu dem Rabbiner, der in deiner Zeit leben wird. Ein Rabbiner muss also die Probleme der heutigen Zeit verstehen. Mein verstorbener Vater hätte auf die Frage, ob die Benützung des iPhones am Schabbat erlaubt ist, keine Antwort geben können.

Sie schon?

Ja – ein streng orthodoxer Jude wird es nicht verwenden. Und kriegt dafür sofort den Lohn vom lieben Gott, indem er einen Tag in Ruhe mit seiner Familie sein kann und nicht abhängig ist vom Internet.

Wie weltlich darf ein Rabbiner sein?

Ein Rabbiner muss so heilig wie nötig und so weltlich wie möglich sein. Streng orthodoxe jüdische Männer gehen nicht einmal ins Kino, weil sie keine Frauen sehen wollen, die nicht voll bekleidet sind. Dann gibt es andere, die sagen, das halt’ ich gerade noch aus – zu denen gehöre ich. Oder die Frage, ob ein Rabbiner einer Frau die Hand schüttelt. Ein Jude soll ja zu einer fremden Frau Distanz halten, weil zu viel Nähe dazu führen könnte, dass sich mehr entwickelt. Andere, zu denen ich gehöre, sagen: Wenn ich einer Frau aus Höflichkeit die Hand schüttle, wird sich daraus nichts Verbotenes entwickeln. Das Schöne am Judentum ist, dass es immer eine Vielzahl an Auslegungen gibt.

Paul Eisenberg: "Ein Witz ist eine ernste Sache"
Interview mit Paul Chaim Eisenberg, in seiner Wohnung, von 1983 bis Juni 2016 Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien

Als Außenstehender hat man den Eindruck, dass Traditionen im Judentum sehr hoch gehalten werden. Warum ist das so?

Wissen Sie, man hat uns Juden sowohl physisch als auch moralisch dezimiert. Wir wollen, dass das Judentum weiter existiert. Wenn wir gar nichts tun, gibt’s uns bald nicht mehr. Wenn wir den Kindern zu Chanukka keine Kerzen anzünden und sie nur noch Weihnachten sehen, werden sie die jüdische Tradition irgendwann verlassen.

Viele Menschen befürchten, dass durch Einwanderung die nationale Identität verloren geht. Verstehen Sie diese Angst?

Ich glaube, die nationale Identität von Österreich sollte sein, dass wir vielfältig sind, auch wenn das manche nicht hören wollen. Alles, was Stolz auf die eigene Kultur ist, trage ich mit. Was zum Nationalismus wird und zur Ablehnung der anderen führt, nicht.

Im Buch geht es auch um Weisheit. Kommt diese automatisch mit dem Alter – oder kann auch ein junger Mensch weise sein?

Im Talmud steht deutlich, dass nicht das Alter alleine unseren Respekt hervorrufen soll. Was zählt, ist, dass man mit Anstand lebt. Ich sage Ihnen, was Weisheit ist: Die jungen Rabbiner kennen alle Regeln. Die alten Oberrabbiner kennen auch die Ausnahmen. Natürlich darf man keine Koscher-Gesetze brechen. Aber wenn jemand in der Wüste ist und sonst verhungert, soll er alles essen, denn das Leben ist wichtiger als die Gebote.

Ein Kapitel heißt "Der gute Mensch". Was ist das, ein guter Mensch?

Einer, der nicht nur seine eigenen Interessen im Sinn hat. Es gibt diese etwas naive Vorstellung, dass der liebe Gott gute Taten belohnt und schlechte bestraft. Doch in Wirklichkeit ist die gute Tat schon der Lohn. Es ist nicht so, dass der liebe Gott sagt, der war brav, jetzt werfe ich Zuckerl vom Himmel. Möglicherweise kommt der Lohn durch die Dankbarkeit des anderen.

Paul Eisenberg: "Ein Witz ist eine ernste Sache"
Buchcover Eisenberg
„Auf das Leben – Witz und Weisheit eines Oberrabbiners“ ist im Brandstätter-Verlag erschienen. 144 Seiten, 19,90 Euro

Paul Chaim Eisenberg

Der Wiener (geboren 1950) entstammt einer Rabbinerfamilie: Sein Vater Akiba Eisenberg, ein gebürtiger Ungar, war der erste Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dessen Tod 1983 übernahm sein Sohn Paul Chaim das Amt, welches er bis 2016 innehatte. Vor seinem Rabbinatsstudium studiert er zwei Semester Mathematik.

Jüdische Gemeinde in Wien

Vor der Machtergreifung Hitlers lebten knapp 200.000 Juden in Wien, heute zählt die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) etwa 7000 Mitglieder (in ganz Österreich sind es laut Schätzungen etwa 15.000). Etwa ein Drittel stammt aus der ehemaligen Sowjetunion. Vor einem Jahr folgte Arie Folger, ein gebürtiger Belgier, Paul Chaim Eisenberg als Oberrabbiner der IKG Wien nach.

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