Offene Beziehung: Von der Tabuzone auf den Fernsehschirm

Vom Ehe-Sex gelangweilt: Toni Collette und Steven Mackintosh im Serien-Hit „Wanderlust“
Was passiert, wenn ein Paar den gewohnten Weg der Zweierbeziehung verlässt? Zwei Netflix-Serien befassen sich damit.

Ich glaube, du willst keinen Sex mit mir haben“, sagt Alan zu seiner Frau, und deren Schweigen lässt wenig Zweifel daran, dass er recht hat. Joy, passenderweise eine Paartherapeutin, liebt ihren Lehrer-Ehemann, das Haus in der Vorstadt, die drei gemeinsamen Kinder – nur die Erotik lässt nach all den Jahren zu wünschen übrig.

So weit, so gewöhnlich. Bemerkenswert ist jedoch der Weg, den das Ehepaar in der neuen Netflix-Serie „ Wanderlust“ ob der sexuellen Dauer-Flaute einschlägt: Statt einer Trennung einigen sie sich in einem ehrlichen Gespräch darauf, ihre Beziehung zu öffnen, also Sex mit anderen zu erlauben. Ein Experiment, das sich – man ahnt es bereits – nicht ganz komplikationsfrei gestaltet.

Binnen weniger Wochen avancierte die sechsteilige BBC-Produktion auf Netflix zum Überraschungserfolg, wohl auch, weil sie trotz pikanten Inhalts frei von Schmuddel- und Fremdschäm-Elementen bleibt, das heikle Thema offene Beziehung wird seriös und behutsam behandelt. „Wanderlust“ ist bereits die zweite Hit-Serie des Streamingportals, in der sich die Protagonisten an ein neues Beziehungsmodell wagen: „You Me Her“ (Du, Ich, Sie) erzählt in bis dato drei Staffeln, wie ein junges Ehepaar in eine romantische Dreierbeziehung rutscht. Zuerst treffen sich Jack und Emma mit Teilzeit-Escort-Girl Izzy „rein geschäftlich“ in der Hoffnung auf ein sexuelles Abenteuer, nach und nach entwickeln aber beide Gefühle für die hinreißende Studentin. Da verliert man schon mal den Überblick darüber, wer nun auf wen eifersüchtig sein soll. Oder wie Facebook sagen würde: Es ist kompliziert.

Offene Beziehung: Von der Tabuzone auf den Fernsehschirm

Liebe im Dreieck: „You Me Her“ gilt als erste polyromantische Comedyserie

Freilich lässt sich anhand zweier Netflix-Serien noch kein gesellschaftlicher Mega-Trend ableiten; wohl aber ein Hinweis darauf, dass alternative Beziehungsformen breiter diskutiert werden. „So etwas kommt nicht oft vor, aber immer öfter“, fasst die deutsche Paartherapeutin Alexandra Hartmann zusammen. Meist handle es sich um eingeschlafene Paarbeziehungen, in denen man versucht, eine Lösung abseits von Scheidung zu finden. „Das Begehren nimmt in langjährigen Beziehungen häufig ab. Man liebt den Partner, möchte die Vertrautheit, die Familie nicht aufgeben, also lagert man nur die Sexualität aus.“

Kann das gut gehen? „Ich habe noch niemanden gefunden, der sagt, dass das lange funktioniert. Eifersucht spielt immer eine Rolle, und selten sind sich beide Partner einig.“

Klingt ernüchternd. Dabei hatte die kanadische Sozialpsychologin Jessica Wood diesen Sommer Menschen in offenen und exklusiven Partnerschaften nach deren Zufriedenheit befragt und festgestellt, dass das Liebes-Glück nicht von der Form der Beziehung abhängt (sondern von der Art der sexuellen Motivation). Drei bis sieben Prozent der nordamerikanischen Bevölkerung würden in nicht-monogamen Beziehungen leben, schreibt sie in ihrer Studie – unerwartet viele. Das Internet kommt den amourösen Bedürfnissen sehr gelegen: Seit 2014 gibt es etwa eine eigene Dating-App für Pärchen, die auf der Suche nach einem dritten Rad am Wagen sind. „Feeld“ wurde binnen zwei Jahren 1,6 Millionen Mal heruntergeladen.

„Wir leben in einer Gesellschaft, in der Individualität große geschrieben wird. Je stärker die Individualität, desto schwächer der Wille zur ausschließlichen Bindung“, erklärt der Trendforscher Peter Wippermann. 2013 prägte er den Begriff „Mingles“, Singles, die eine paarähnliche Beziehung führen, aber unverbindlich. Während Sexualität früher neutral bis negativ diskutiert wurde, sei sie heute Teil des Lifestyles: „Das unterstützt die Toleranz gegenüber dem Partner, wenn er Erfahrungen außerhalb der originären Beziehung machen möchte. Apps wie Tinder machen es technisch möglich.“

Frauen vor

Lange wurde der Wunsch nach außerehelichen Abenteuern den Männern zugeschrieben. Doch die Arbeitswelt verändert das Liebesleben, sagt Wippermann. „Die Ausschließlichkeit einer Beziehung hing immer mit der Rolle des Ernährers zusammen. Solange der Mann diese Aufgabe hatte und die Frau von ihm abhängig war, war eine Bindungsnähe vorprogrammiert. In dem Moment, wo beide wirtschaftlich unabhängig sind, sieht das schon ganz anders aus. Der Anteil der aktiven Frauen wird weiter zunehmen.“ Auch in „Wanderlust“ ist es Joy – die Frau –, die das Tor zur offenen Beziehung aufstößt, ihr Ehemann zieht zuerst nur widerwillig mit.

Ist die neue Offenheit der endgültige Beweis dafür, dass Monogamie ein Auslaufmodell ist, das dem Naturell des Menschen widerspricht? „Je mehr Freiheit wir haben, desto mehr Freiheit haben wir, unseren Instinkten zu folgen. Tatsächlich liegt Monogamie nicht in unserer Natur, es gibt auch keine anderen Säugetiere, die monogam leben, weil es biologisch gesehen keinen Sinn macht“, erläutert Psychologin und Paartherapeutin Hartmann. „Monogamie ist eine Entscheidung. Wir treffen sie bewusst, weil sie für uns kulturell sinnvoll ist.“

Wohl auch deshalb wird sich das Konzept der Zweierbeziehung – romantisch oder nicht – noch lange halten. Auch wenn es dafür, wie in der Serie „Wanderlust“, manchmal einer dritten Person bedarf.

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