Offene Beziehung: Sündig oder sinnvoll?

Experten geben Tipps, worauf es bei Langzeit-Partnerschaften wirklich ankommt
Kann ein Freibrief für Seitensprünge wieder mehr Prickeln in eine Beziehung bringen?
Wer Treue bewahrt, kennt nur die triviale Seite der Liebe. Nur die Treulosen kennen die Tragödien der Liebe. (Oscar Wilde)

Aufregend, neu, abenteuerlich – nach vielen Jahren in fester Beziehung einen fremden Körper berühren, riechen, schmecken, hat seine Reize. Als Alternativprogramm zum Ehealltag wieder einmal Stunden mit einem fremden Menschen verbringen – ihn spüren, sich selbst spüren. Und das womöglich ganz offiziell, weitab einer Affäre – ohne Lügen, ohne Geheimnisse. Das Prinzip dahinter nennt sich "offene Beziehung". Fremdgehen mit Erlaubnis des Partners. Paare, die sich den Komfort und den liebevollen Umgang in der Beziehung erhalten wollen, die einander respektieren und einen offenen, ehrlichen Umgang pflegen, vereinbaren einen Deal: Jeder darf sich zum sexuellen Vergnügen mit anderen treffen, ohne dabei die eigene Beziehung aufs Spiel zu setzen. Gleiches Recht für alle.

Eine verlockende Abwechslung, aber funktioniert sie auch? Und bringt sie wirklich jene Spannung, nach der man sich sehnt? Oder ist so ein Experiment der Anfang vom Ende?

S-Experiment

Die US-Autorin Robin Rinaldi hat diesen Versuch nach 18 Jahren Ehe gewagt. Sie wollte immer Kinder, ihr Mann nicht. Als er sich sterilisieren ließ, zog die damals 44-Jährige, die vor ihrem Mann nur vier Sexpartner hatte, Bilanz. Und sie fasste einen Entschluss: "Ich weigere mich, ohne Kinder und mit nur vier Liebhabern zu sterben. Wenn ich nicht das eine haben kann, will ich wenigstens das andere." Das Projekt "2 Tage Ehe, 5 Tage Sex" nahm seinen Lauf. Ihr Mann willigte in die offene Beziehung ein – unter der Woche lebte sie in einer eigenen Wohnung, jeder durfte machen, was er will. Am Wochenende waren sie wieder ein Ehepaar. Es gab jedoch drei Regeln: Keine ernsthaften Bindungen, kein ungeschützter Verkehr, kein Sex mit gemeinsamen Freunden. Beide verstießen gegen die Regeln. Ihre Erfahrungen schildert Rinaldi nun in dem Buch "Mein wildes Jahr. Zwei Tage Ehe, fünf Tage Sex".

Geht es nach dem Sexualpsychologen Univ.-Prof. Josef Aigner von der Universität Innsbruck ist das der nächste Hype nach "50 Shades of Grey": "Es wird so getan, als ließe sich das Anderswerden der Sexualität in längeren Beziehungen nur durch Ausbrechen in eine imaginäre Welt des ,Mach was du willst!‘ lösen. Das entspricht im Grunde einer konsumkapitalistischen Denkweise: Sich gönnen, was man meint, sich leisten zu müssen, ohne Rücksicht auf den anderen."

Emotionale Erwartungen

Aigner kennt keine offenen Beziehungen, die über einen kurzen Versuchszeitraum hinaus funktioniert haben. "Das hat damit zu tun, dass unsere fixen Partnerschaften seit geraumer Zeit mit so vielen emotionalen Erwartungen und Bedürfnissen nach Nähe, Aufgehobenheit oder auch Trost verbunden sind – bewusst oder unbewusst –, dass das eine andere sexuelle Beziehung oder gar mehrere neben der eigenen gar nicht aushält."

Auch der Paartherapeut Prof. Dirk Revenstorf, Autor des Buches "Liebe und Sex in Zeiten der Untreue: Wege aus der Verunsicherung", ist skeptisch. "Der Freiheitsdrang früherer Generationen ist heute nicht mehr vorhanden. Ganz viel Selbstwert und Sicherheit ist heutzutage nicht mehr durch die soziale Umwelt gegeben und wird aus der Beziehung geholt." Mit Abenteuern außerhalb einer Partnerschaft werde dieses Grundbedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit verletzt. Die Experten beobachten daher ein zunehmendes Bedürfnis nach Exklusivität in Beziehungen.

Trotzdem haben Seitensprungportale im Internet immer mehr Zulauf – 86 Prozent der Nutzer von victoriamilan.com fühlen sich etwa vom Gedanken überwältigt, den Rest ihres Lebens nur noch mit ihrem Partner zu verbringen. Jeder vierte Nutzer träumt von Sex mit der besten Freundin seiner Partnerin. Die Frauen schwärmen insgeheim von Nachbarn oder Kollegen. Revenstorf dazu: "Die Wahlfreiheit ist heute sehr groß. Wenn ein Seitensprung passiert, dann muss das nicht das Ende für die Beziehung sein. Es kann gut verkraftet werden. Wenn ein Paar sich dem stellt und überlegt, wie es damit umgeht, kann das die Beziehung auffrischen."

Stefan, 42, hat das Experiment "offene Beziehung" nach 15 Jahren Ehe und zwei Kindern mit seiner Frau gewagt und sieht es als Bereicherung, erzählt er auf der Plattform www.offenebeziehung.com. "Ich habe es von der ersten Sekunde an genossen, mit anderen Frauen zu flirten und diese nach Hause zu begleiten. Und auch meine Ehefrau ist richtig aufgeblüht." Bis ihre Ehe kurz davor war, daran zu zerbrechen. "Wir hatten kaum mehr Sex miteinander, aber viel mit anderen." Das Paar besann sich darauf, wieder mehr gemeinsame Zeit zu verbringen. Außereheliche Kontakte wurden auf kurze Abenteuer beschränkt – keine langen Affären.

Neue Zugänge zueinander

Aigner hält es für sinnvoller, sich professionelle Beratung zu suchen oder in einen Partnerschaftskurs zu investieren, wo man lernen kann, dass Sexualität in einer längeren Beziehung anders – und nicht weniger – wird. "Das bedeutet auch ein gewisses Abschiednehmen von der durch unsere sexualisierte Bilderwelt andauernd in die Leute hineingestanzte juvenile Pseudosexualität, als könne die ewig so wie am Anfang bleiben. Und damit erkennt man auch, dass sich Sexualität nicht dauerhaft in Kinoform abspielen kann." Dennoch empfiehlt der Sexualtherapeut gesunde Distanz in einer Partnerschaft zu pflegen. "Brüderchen-Schwesterchen oder Papi-Mami-Vertrautheit killt die Lust mit Sicherheit." Jeder sollte seine eigenen Interessen und Freundeskreise für sich pflegen und respektieren und anerkennen, dass es nach jahrelanger Ehe andere Werte als den angeblich ständig prickelnden Sex gibt. "Werte, die mindestens ebenso wichtig, aber leider wenig geachtet sind."

Diese Werte hält auch Buchautorin Rinaldi wieder hoch – allerdings in ihrer neuen, monogamen Beziehung. Das Projekt mit ihrem Ehemann endete mit einer Scheidung.

Buchtipps

„Mein wildes Jahr. Zwei Tage Ehe, fünf Tage Sex“ von Robin Rinaldi, erschienen bei Bertelsmann, 352 Seiten, 15,50 €.

„Liebe und Sex in Zeiten der Untreue: Wege aus der Verunsicherung“ von Dirk Revenstorf, erschienen bei Pattloch, 256 Seiten, ca. 20 €.

KURIER: Hätten Sie gedacht, dass Ihr Experiment mit einer Scheidung endet?
Robin Rinaldi: Ja, ich war mir dessen bewusst. Ich war bereit, meine Ehe zu riskieren, um meine wilde Seite in mir zu entdecken.

Haben Sie das Projekt je bereut?
Nein. Ich habe mich selbst und meine Ehe besser kennengelernt als in vielen Jahren Therapie. Manchmal lernt man durch Taten viel mehr als durch Worte und Theorien. Auch, wenn diese Taten schmutzig sind. Und das waren sie in meinem Fall.

Kann eine offene Beziehung eine lange Partnerschaft Ihrer Ansicht nach beleben?
Wenn das beide Partner wollen und es sonst keine tieferen Probleme in der Beziehung gibt, dann ja. Sogar in meiner Ehe, wo wir auch andere Probleme hatten, gab uns das Projekt die Distanz, einander mit neuen Augen zu sehen – zumindest anfangs.

Sie haben in einem Zentrum für Sexualerziehung Erfahrungen mit orgasmischer Meditation gemacht – würden Sie das mehr Frauen empfehlen?
Es kann nicht schaden. Dabei wird die Klitoris 15 Minuten lang gestreichelt, während die Frau nichts machen muss, außer die Reaktionen ihres Körpers zu spüren. Mir scheint, das fehlt in unserem Verständnis von Sex oft, wo es im Normalfall um Verkehr mit dem Ziel Orgasmus geht. Nicole Daedone erklärt das gut in ihrem Buch „Slow Sex“.

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