Trauerarbeit: Der Tod kann uns die Liebe nicht nehmen

Linda Kreiss, Sohn Tilman
Der Sohn von Linda Kreiss ist 27 Jahre alt, als er nach langer Krankheit stirbt. Seinen Tod verarbeitete die Künstlerin in 77 berührenden Briefen.

Sternensohn. So nennt die Künstlerin Linda Kreiss ihren Sohn Tilman Arun, nachdem er 2011 mit knapp 28 Jahren starb – an den Folgen von Mukoviszidose. Eine Stoffwechselstörung , die u. a. zu chronischen Entzündungen der Atemwege führt und die bei Tilman im Alter von sechs Jahren diagnostiziert wurde. Sein Leben endet in jenem Moment, als sich die Eltern entscheiden, die Herz-Lungen-Maschine vom Netz nehmen zu lassen. Nach einer weiteren Herzoperation war er nicht mehr aus der Narkose aufgewacht.

Trauerarbeit: Der Tod kann uns die Liebe nicht nehmen
Ein unvorstellbarer Augenblick, auf den Kreiss und ihr Mann trotz der immerwährenden Gewissheit, dass ihr Sohn sie nicht überleben würde, unvorbereitet sind. Danach beginnt Lindas Versuch, "zu begreifen, was nicht zu fassen war" und "nicht den Verstand zu verlieren". Sie ringt darum, einen Sinn in dem Geschehenen zu finden. Dabei wird ihr klar, dass sie "den freien Fall der Trauer zulassen muss", um einen Raum zu schaffen. Einen Raum, in dem ihr "Sternensohn" in ihrer Erinnerung weiterleben kann: "So lange mein Herz schlägt, wird es diesen Raum geben."

In und aus diesem Raum entstand ein Buch, in dem Kreiss 77 Briefe veröffentlicht, die sie an ihn nach seinem Tod geschrieben hat. Linda Kreiss jammert nicht. Im Gegenteil – es ist das berührende Dokument von Reflexion, Trauerarbeit und Lebensmut. Und der Beweis dafür, dass Liebe auch jenseits des Todes einen Platz zum Gedeihen hat, denn – so Kreiss: "Der Tod kann uns die Liebe nicht nehmen, er kann nur jeweils Positionen verschieben. Wenn es uns gelingt, diese Transformation zu akzeptieren, wachsen wir an diesem Prozess."

Im KURIER-Interview erzählt die Künstlerin, was sie durch diesen Schicksalsschlag und die Präsenz des Todes gelernt hat. Und wie es ist, ein Kind zu verlieren. Den "Sternensohn", der – und dessen ist sich Kreiss gewiss – "in Frieden in anderen Sphären wandelt".

KURIER: Wer so viele Jahre im Bewusstsein des Todes lebt, spürt und erlebt anders. Wie hat das Ihr Leben verändert?

Linda Kreiss: Nach der Diagnose "Mukoviszidose" für meinen Sohn und dem Wissen, dass es dafür keine Heilung gibt, hat sich meine Sichtweise grundlegend verändert. Ein Blick für das Wesentliche, für die wirklich wichtigen Dinge im Leben, stellte sich ein. Dieses bewusste Erleben und Erfahren hat sich in all den Jahren nie mehr verloren, denn "Normalität", wie es für die meisten Menschen ganz selbstverständlich ist, gab es für uns nicht mehr. Trotzdem war ich immer wieder dankbar, dass ich das Leben meines Sohnes teilen und ihn auf seiner Lebensreise begleiten durfte.

Oft waren es kleine Dinge, die ihm Freude bereiteten – ein warmer Sonnenstrahl, eine Autozeitschrift, ein freundlicher Mensch. Im Angesicht der Endlichkeit verschieben sich die Prioritäten. Er war manchmal schon glücklich und seine Augen strahlten, wenn es ihm gesundheitlich so gut ging, dass er genug Luft bekam und sich frei bewegen konnte. Da lernt man Demut.

Wie viel Alltag und Normalität waren für Sie machbar – und nötig?

Unserem Sohn war es sehr wichtig, dass er – wie alle anderen Kinder seines Alters – in die Schule ging. Er hat trotz gesundheitlicher Probleme das Fachabitur gemacht und wollte studieren. Das bringt einen Alltag mit sich, der organisiert werden will und der so manche Hilfestellung erfordert. Als Eltern haben wir ihn unterstützt, wo wir konnten, und gleichzeitig versucht, ihm den Freiraum zu geben, den ein Junge seinem Alter gemäß braucht, um sich persönlich zu entwickeln.

Es heißt oft, dass Menschen, die "endlich" leben müssen, "weiser" sind. Wer war Ihr Sohn?

Unser Sohn war ein sehr feinfühliger, liebevoller, intelligenter Mensch. Er hatte viel Mitgefühl für Menschen und Tiere. Einmal hat er unter Lebensgefahr ein kleines Mädchen gerettet, das im Winter durch die dünne Eisdecke eines Bachs gebrochen war. Natürlich hat er sich auch viele Gedanken über Leben und Tod gemacht und darüber mit meinem Mann und Freunden diskutiert. Als Bub hat er viel gezeichnet und sein humorvolles Wesen in Cartoons ausgedrückt. Er konnte sich leicht in andere hineinversetzen. Und er wollte absolut kein Mitleid für seine Situation.

Sie schreiben: "Die Trauer hat ihren Raum, den ich betreten und wieder verlassen kann." Wo ist dieser Raum, was tut er mit Ihnen?

Ich finde diesen Raum der Trauer im Herzen. Er ist da, wo die Liebe zu meinem Sohn wohnt und immer gewohnt hat. Wenn ich an ihn denke, wenn ich traurig bin und mir seine physische Form und Gestalt so schmerzlich fehlen, dass es kaum auszuhalten ist, dann ziehe ich mich darin zurück. Oft genügen kurze Momente des Verweilens, dann habe ich wieder Kraft geschöpft, um zu wissen, dass es ihm gut geht.

Haben Sie sich durch den Tod von Tilman Arun verändert?

Der Tod ist und bleibt eine sehr große Sache für mich, wie vermutlich für alle Menschen. Denn er ist so endgültig, so unveränderlich im Moment. Aber ich habe auch gelernt, dass die Liebe mit dem Tod nicht aufhört. Ich liebe meinen Sohn immer noch, und werde ihn immer lieben. Das ist nicht veränderbar. Gleichzeitig spüre ich seine Liebe auch immer noch in mir. Das ist ein großer Trost. Der Gedanke an den Tod hilft, versöhnlicher zu werden – uns und anderen gegenüber. Man definiert im Gedanken an ein Ende viel leichter, was wichtig und wertvoll ist. Ich vergeude meine Zeit nicht mehr gerne mit Unsinn und Zerstreuung. Ich möchte mich nicht zer-streuen, ich will mich lieber konzentrieren auf wesentliche Dinge. Auf die Liebe zu meinem Mann, mein Schreiben und meine Malerei.

Sie haben sich nach dem Hirntod Ihres Sohnes entschieden, die Herz-Lungen-Maschine abschalten zu lassen. Das Thema "selbstbestimmtes Sterben" wird ja derzeit intensiv diskutiert.

Wir hatten in der Familie oft über dieses Thema gesprochen und unser Sohn hat uns das Versprechen abgenommen, ihn in genau so einer Situation nicht an einer Maschine hängen zu lassen. Er war knapp 27 Jahre alt, als er diese Entscheidung traf. Selbstverständlich haben wir mit den zuständigen Ärzten auf der Intensivstation des AKH Wien mit vielen Untersuchungen und Tests abgeklärt , dass der Hirntod längst eingetreten war. Trotzdem war es kein leichter Schritt. Für mich war es in dieser Situation sehr wichtig, dass mein Mann an meiner Seite war und wir gemeinsam mit den Ärzten entscheiden konnten.

Ein schönes Bild ist Ihr Gedanke "dass man nichts Falsches tun kann", wenn man Sterbenden oder aber Trauernden begegnet – was heißt das praktisch?

Wenn ein Mensch Mitgefühl mit der Situation eines/r anderen hat, sind einzelne Worte nicht so wichtig. Wenn er sein Herz sprechen lässt, kommt die empathische Botschaft beim Gegenüber sicher an. Oft sind es nicht einmal Worte, die zählen. Ein Blick oder eine Berührung ist viel wichtiger und gibt dem Betroffenen Kraft. Auch bloßes Da-Sein kann Kraft spenden und trösten. Nichts reden, nur da sein.

Wie geht es Ihnen jetzt – was hat sich verändert? Und was ist aus der Zeit "zu dritt" geblieben?

Nach dem Tod meines Sohnes habe ich mich intensiv dem Schreiben und dem Malen gewidmet. Dinge, denen ich in der Vergangenheit viel Aufmerksamkeit schenkte, sind nun zu meinem Hauptinteresse geworden. Ich begleite meinen Mann auf Forschungsreisen und schreibe Reise-Erzählungen über Nepal und Indien. Ich komme an außergewöhnliche Orte und begegne dort Menschen, die meist in den Bergen in schwer zugänglichen Gebieten leben und oft eine Religion leben, die älter ist als der Buddhismus oder der Hinduismus. Beim Malen ist es mir wichtig, das Wesen von Pflanzen und Gefühlen mit Farben sichtbar zu machen. Ich male und schreibe parallel, so gebe ich den Beobachtungen, die mich beschäftigen, Form, Farbe und Gestalt. So verankere ich mein Dasein im Hier und Jetzt. Außerdem habe ich gelernt, dass das Wesentlichste für mich die Liebe zu den Menschen ist, die mich umgeben, die mir wichtig sind. Diese Liebe auch zu zeigen und genau darin großzügig zu sein. Ich habe meinem Sohn so oft gesagt, dass ich ihn liebe und ich bin sehr froh, dass ich das tat. Er starb in dem Bewusstsein, geliebt worden zu sein – das zählt für mich. Auch, dass ich alles Menschenmögliche tat, um ihm sein Leben zu erleichtern und zu verschönern, hilft mir, keine Reue in mir tragen zu müssen. Aber die vermutlich wichtigste Erkenntnis war und ist die, dass die Liebe weit über den Tod hinaus reicht. Der Tod kann eine Liebe nicht beenden. Liebe kennt keine Grenzen, das spüre ich jeden Tag aufs Neue seit seinem Tod. Es ist eigentlich ein Wunder.

Für eine Ehe ist die chronische Erkrankung eines Kindes enorm belastend. Welche Erfahrungen haben Sie und Ihr Mann da gemacht?

Mein Mann liebt meinen Sohn ebenso wie ich. Wir haben uns immer gemeinsam Sorgen gemacht, uns gemeinsam gekümmert, gemeinsam alles, was auf uns zukam, getragen. Wir konnten uns blind aufeinander verlassen, immer und überall. Das hat uns enorme Kraft gegeben und befähigt, an all den Aufgaben und Situationen zu wachsen. Wir sind nie verzweifelt, haben Wege gesucht und gefunden. Unsere Liebe ist an dem Erlebten und Erlittenen gewachsen – wir sind einander nur noch nähergekommen und freuen uns über jeden Tag und jede Nacht, die wir miteinander erleben dürfen. Das nach 40 gemeinsamen Jahren – noch so ein kleines Wunder ...

Ist es möglich, sich auf den Tod vorzubereiten?

Aus meiner Sicht ist das nur möglich, insofern man dem Tod einen Raum in den Gedanken gibt und akzeptiert, dass es eines Tages so weit sein wird. In meinem Fall war es wichtig, jeden Tag aufs Neue um das Leben meines Sohnes zu kämpfen. Um sein Leben ging es, und nur darum. Ich habe meine ganze Kraft in diesen Kampf gesteckt, und er wollte ja auch leben. Also haben wir gemeinsam gekämpft, so lange es ging. Was mir bei alldem noch wirklich wichtig wäre und ich zu meinem Sohn zu sagen habe: Es geht nicht darum, was wir mit ihm verloren haben, sondern darum, was wir zuvor an ihm hatten und immer noch haben.

Trauerarbeit: Der Tod kann uns die Liebe nicht nehmen
Buch
Das Glück von Linda ist perfekt, als ihr Sohn geboren wird. Im Alter von sechs Jahren wird bei ihm eine schwere Krankheit diagnostiziert. In berührenden Briefen hält die Autorin nach seinem Tod Zwiesprache mit ihm. „Linda Kreiss, Sternensohn – Briefe an mein entschlafenes Kind“ Goldegg-Verlag, € 19,90

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