Warum der Homo sapiens seine Vettern überlebte

Ein intimer Moment: Museumsbesucher in Washington Auge in Auge mit dem Modell eines Neandertalers.
Die Geschichte vom Aussterben des Neandertalers muss neu erzählt werden.

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben oder zumindest von jenen, die überlebt haben. Kein Wunder also, dass die Forschung lange von der Unterlegenheit der ausgestorbenen Neandertaler ausging und mit Studien untermauerte. Der moderne Mensch habe, als er sich vor 100.000 Jahren anschickte, die Welt zu erobern, eine ausgefeiltere Sprache benutzt, habe über bessere Waffen verfügt und Tierfallen genutzt. Zudem seien die sogenannten modernen Menschen insgesamt innovativer und vernetzter gewesen.

Dieses Bild hat Risse bekommen. Tiefe Risse mittlerweile. Und die Untersuchungen von Paolo Villa von der Universität Colorado und Wil Roebroeks von der Universität Leiden verbreitern sie noch. Die beiden Forscher melden massive Zweifel an: "Wir haben keine Beweise gefunden, dass die Erklärungen von fundierten archäologischen Daten gedeckt sind", heißt es in der im Fachmagazin Plos One veröffentlichten Zusammenschau früherer Studien.

Sowohl beim Neandertaler als auch beim Homo sapiens seien Malereien und Schmuck entdeckt worden. Auch die Annahme, Neandertaler seien schlechtere Jäger gewesen, ist laut der Plos One-Studie nicht zu halten. Es fehlen einfach die Beweise. Stattdessen habe der Neandertaler nachweislich Großwild gejagt. Mit einer Überlegenheit des modernen Menschen sei das Aussterben des Neandertalers – etwa 28.000 Jahre vor unserer Zeit – nicht zu erklären. Wahrscheinlicher sei es, dass die Neandertaler im modernen Menschen aufgingen, als sie sich mit diesem paarten. Homo sapiens sei zahlenmäßig so überlegen gewesen, dass die Neandertaler-Gene größtenteils verdrängt worden seien.

Bei jedem Europäer entstammen immerhin 1,5 bis 2,1 Prozent des Erbguts aus der steinzeitlichen Vermischung mit dem Urvolk. Es sind nicht viele, aber entscheidende Gene. Die Gene der Neandertaler halfen den Vorfahren des modernen Menschen dabei, sich an die kühlere Witterung in Europa anzupassen. Neandertaler-Erbgut ist in heutigen Europäern und Ostasiaten insbesondere an Stellen vorhanden, an denen Wachstum und Ausgestaltung von Haut und Haaren geregelt werden.

Wahrscheinlich ist das Aufgehen des Neandertalers im Homo sapiens eine Fortsetzung jener evolutionären Vorgänge, die sich zuvor in Afrika abgespielt haben. Der Londoner Paläogenetiker Chris Stringer hält die Menschwerdung für einen auf ganz Afrika verbreiteten Prozess, an dem verschiedene verstreute Frühmenschen-Gruppen beteiligt waren. Der Mensch von heute wäre demnach einer Art Verschmelzung entsprungen, die sich über Hunderttausende Jahre hingezogen habe. "Die Idee von Adam und Eva ist eine Illusion."

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