Wie ein Blinder Marathon läuft
Hand in Hand gehen Henry Wanyoike und Joseph Kibunja zum Auslaufen in den Schlosspark Schönbrunn. Nicht, weil sie verliebt sind, sondern weil der Läufer mit der dunklen Brille blind ist und in der fremden Stadt die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, nicht kennt.
Schritt für Schritt
Gemeinsam mit dem Freund seiner Kindheit, der ihn seit 15 Jahren überall hin begleitet und betreut, ging der blinde Langstreckenläufer auch Dienstagabend beim Vienna Night Run an den Start. Die beiden verstehen einander blind, nicht nur beim Training und im Rennen. Auch im Alltag agieren sie im Gleichschritt. Auf Reisen teilen sie ein Hotelzimmer, ohne sich auf die Nerven zu gehen. "Man kann ja über alles reden", sagt Henry. "Man muss nur den richtigen Zeitpunkt finden", ergänzt Joseph.
Eines Morgens war Henry Wanyoike aufgewacht. Zu Hause in Kikuyu, einem kleinen Ort zwanzig Kilometer westlich der Hauptstadt Nairobi. Er war damals 21 – und von einem Tag auf den anderen ohne Augenlicht. Den Schlaganfall in der Nacht hatte er überlebt, geblieben ist jedoch die völlige Erblindung.
Eine Psychologin in einer Klinik, die von Licht für die Welt unterstützt wird, hat ihn danach wieder langsam aufgerichtet. Der gelernte Schuhmacher erinnert sich noch gut: "Ich musste mein Handwerk noch einmal neu erlernen." Dann hat er als Blinder zusätzlich stricken gelernt. Und schließlich begann er wieder mit dem Laufen, um der sozialen Isolation zu entfliehen, wie er bei seinen Vorträgen und Interviews immer wieder betont.
Der Schattenmann
Eine starke Persönlichkeit ist auch sein ständiger Schatten, sein ebenfalls 40-jähriger Begleiter. Joseph Kibunja hat nichts dagegen, dass sein Freund als Lichtgestalt präsentiert wird. So kann er sich auf seine Aufgaben konzentrieren. Die im Wettkampf und auch beim Training doppelt schwer zu bewältigen sind: "Ich muss nicht nur laufen, ich muss auch ständig darauf achten, dass der Henry keinen falschen Schritt macht." Vor allem die Straßen in Kenia seien eine Herausforderung, während der Regenzeit für Läufer sogar unpassierbar.
Und noch eines muss der Sehende in den Griff bekommen: "Den unbändigen Siegeswillen von Henry." Der erklärt zwischendurch Sätze wie diesen: "Das Problem ist für mich nicht die Qualifikation für Rio. Die Frage ist eher, wie ich in Rio erneut die Goldmedaille gewinne."
Sieg im Dunklen
Am Dienstag war Wanyoike auf dem 5 km langen Rundkurs (über die Ringstraße) in einer Zeit von 18:05 Minuten Erster unter den Blinden. Das ist noch nicht olympiareif. Doch das Training für Rio beginnt erst Anfang Jänner. Bis dahin stehen noch eine ganze Reihe von Schulbesuchen auf dem Programm, so wie jener heute im Sportgymnasium in Maria Enzersdorf.
Knapp 20.000 Läuferinnen und Läufer waren Dienstagabend beim 8. „Erste Bank Vienna Night Run“ auf der Ringstraße unterwegs. Mit ihrer Hilfe (6 € des Startgelds von jedem Teilnehmer gehen an die Hilfsorganisation „Licht für die Welt“) können 3825 Operationen am Grauen Star durchgeführt werden.
Henry Wanyoike war der schnellste blinde Läufer. Schon vor dem Rennen meinte er relaxed: „Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich am Tag oder in der Nacht laufe.“
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