Sie durften nicht Meister/innen bleiben

Sie durften nicht Meister/innen bleiben
Ein historischer Boxer aus Deutschland und eine ausgedachte Boxerin aus Ungarn werden in "Gipsy stop dancing" runtergemacht, weil sie Roma bzw. Sinti waren/sind

Ein Boxring mitten auf der Bühne, daneben ein langer, von der Decke baumelnder, Sandsack. Ja, es geht ums Boxen. Oder doch nicht - nur.
Das knapp mehr als einstündige Stück verbindet eine wahre Geschichte mit einer ausgedachten. In beiden Fällen geht es um die (tödliche) Diskriminierung von Roma und Sinti. Simonida Jovanović & Sandra Selimović haben sich das Stück ausgedacht und geschrieben und spielen auch beide mit. Erstere als Boxer(in). Im ersten Teil stellt sie den einstigen deutschen Boxmeister Trollmann dar, dem der Titel weggenommen wurde, weil er Sinto war und bereits 1933 die Nazis auch in diesem Verband die Macht übernommen hatten.

Jahrzehnte vor Muhammed Ali...

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... wurde Johann Wilhelm Trollmann, genannt "Rukeli" oder auch "Gipsy", wegen seines tänzelnden Stils im Seilgeviert berühmt. 1933 wurde er nach einer langen Siegesserie in einem Kampf gegen Adolf Witt sogar deutscher Meister im Halbschwergewicht. Der von Erich Seelig, einem jüdischen Boxer, der nicht mehr starten durfte, trainierte Sinto, wurde wegen seines attraktiven Stils Liebling der Massen. Nur das rettete ihm den Titel, den ihm der deutsche Boxverband, der schon von Nazis stark durchsetzt war, nicht zuerkennen wollte. Sie wollten den deutlich unterlegenen Herrn Adolf zum Punktesieger küren, was das Publikum ganz und gar nicht billigte. Rund eine Woche nach dem Kampf jedoch nahm der Verband Trollmann den Titel doch weg - wegen "armseligen Verhaltens" (seine Freudentränen nach dem zuerkannten Sieg). Ein Monat später stieg ein weiterer Kampf, der zur Farce wurde. Trollmann durfte nicht gewinnen - der Box- war zum deutschen Faustkämpferverband geworden und die Stärken des "Zigeuenrs" durfte der nicht ausspielen - angefangen von der Beinarbeit bis hin zur Beschränkung seiner größeren Arm-Reichweite, die er nicht einsetzen durfte.
Trollmann war aus Protest mit blondgefärbten Haaren, seine Haut mit weißem Puder bedeckt, als Karikatur eines "arischen" Boxers in den Ring gekommen, verlor wenige Monate später seine Boxlizenz, wurde mit Kriegsbeginn zur Wehrmacht eingezogen, an die Ostfront geschickt, verletzt, 1942 verhaftet und in Konzentrationslager deportiert, wo er im KZ Neuengamme am 9. Februar 1943 für tot erklärt wurde. Aussagen eines Mithäftlings zufolge kam er unter anderem Namen ins KZ-Außenlager Wittenberge. Dort wurden ihm seine Boxfähigkeiten zum Verhängnis, da er von SS-Leuten immer wieder "herausgefordert" wurde. 1944 trat ein Kapo gegen Trollmann an und verlor den Kampf. Der Kapo war darüber so erbost, dass er einen Knüppel nahm und Trollmann erschlug.

Ungarische Boxmeisterin

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Den zweiten Teil bestreitet Selimović als fiktive ungarische Boxerin. Die aufgeheizte, rassistische hetze gegen Roma und Sinti, wie sie in Ungarn auf der Tagesordnung steht und im Hintergrund über Videos eingeblendet wird, veranlasste zu einer Parallele. Der Boxerin wird von einem Verbandsfunktionär bedeutet, es wäre doch besser, sich zurückzuziehen und sich um ihre Familie zu kümmern.
Was sie natürlich nicht tut. Im entscheidenden Kampf jedoch deutlich sichtbar mit dem Gedanken spielt, doch wenigstens zu verlieren. Doch sie bleibt sich ihrem Grundsatz zur Wahrheit und Ehrlichkeit treu...

Erschreckend die Parallele Jahrzehnte später. Ein wichtiges Stück, über weite Strecken auch ausgezeichnet gespielt und gut mit dezent im Hintergrund laufenden, teils erschreckenden Videos kombiniert. Ein genialer "Schachzug" sind die Tanzelemente, die an den tänzelnden Boxstil Trollmanns anknüpfen und zu eigenständigen Elementen werden - ob als bollywoodartige ganze Szene als der Beginn des finalen Kampfes der beiden ungarischen Boxerinnen erwartet wird oder als der Verbandsfunktionär die Roma-Boxerin in einem Tänzchen zum Rückzug überreden will...
An manchen Stellen wäre mehr Darstellung des Erzählten durch Schauspiel statt durch deklamatorischen Text wünschenswert. Und manche Darsteller_innen würde man sich hörbarer wünschen.

Infos

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GIPSY STOP DANCING...
… ist das erste Projekt des von den Schauspielerinnen Sandra Selimović und Simonida Jovanović gegründeten Theatervereins Romano Svato (= Sprache/Zunge der Roma), der sich auch in Zukunft auf künstlerischer Ebene und mit politischen Engagement mit den Themenkreisen Volksgruppen und Minderheiten auseinander setzen will.

Gespielt wird zweisprachig: Romanes & Deutsch
Es spielen:
Sandra Selimović (Boxerin)
Max Hoffmann (Boxverbandschef)
Harald Jokesch (Trainer)
Simonida Jovanović (Schwester der Boxerin)
Stefan Kurt Reiter (Assistent der Vereinsführung)
Mariana Catalina Lanza Huidobro (Gegnerin),
Zvezdana Ramadanović (Fan)

TEXT / BUCH:
Simonida Jovanović, Sandra Selimović, Nehle Dick, Gilda Horvath
REGIE: Nehle Dick
VIDEO: Alexandra Reill
KOMPOSITION & TON: Jürgen Neuhofer

Vorstellungen
2., 3. November 2011
5., 6., 7., 8., 9., 10., 11. Dezember 2011
20 Uhr
PALAIS KABELWERK
1120 Wien; Oswaldgasse 35A
Karten: Telefon (01)802 06 50
eMail: tickets@palaiskabelwerk.at

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