Warum wir Lust an der Angst haben

Warum wir Lust an der Angst haben
Heute Nacht wird's gruselig: Psychologen erklären, warum wir uns manchmal fürchten wollen.

Tanja ist kein besonders mutiger Mensch. Menschenmassen machen sie nervös, Clowns findet sie furchterregend und beim Anblick einer Spinne ergreift sie sofort die Flucht. Dennoch ist Fürchten eines ihrer liebsten Hobbys – so oft es geht, sieht sie sich gruselige Filme an. Dann beginnt ihr Herz zu rasen, ihre Hände werden feucht – und am Schluss geht doch alles gut aus. Einfach herrlich, findet Tanja: "Horrorfilme geben mir einen Adrenalinkick", sagt sie. "Ich werde mit meiner Angst konfrontiert, aber am Ende doch wieder erlöst."

Diesen Nervenkitzel werden heute viele erleben: Im ganzen Land finden gruselige Halloween-Partys statt, Kinder ziehen, verkleidet als Geister oder Zombies, durch die Nacht. Alles ziemlich furchterregend. Und genau deswegen so beliebt. "Angstlust" nennen Psychologen das Phänomen der kalkulierten Furcht: Man setzt sich freiwillig einer Gefahr aus, im Hinterkopf immer die Gewissheit, dass eigentlich nichts passieren kann. Borwin Bandelow, renommierter Angstforscher aus Deutschland, vergleicht es mit einer Achterbahnfahrt: "Es wird uns suggeriert, dass wir in höchster Gefahr sind. Es gibt nämlich ein primitives Angstzentrum im Gehirn, das nichts von TÜV (Technischer Überwachungsverein, Anm.) oder Ähnlichem weiß."

Glückshormone

In einer Stresssituation wird im Gehirn zunächst Adrenalin ausgeschüttet, danach sind die Glückshormone, die Endorphine, am Zug. "Wenn wir die Kurve gekriegt haben, ist die Angst weg, aber die Endorphine sind noch im Körper", erklärt Bandelow. "Um dieses Gefühl zu kriegen, zahlen wir sechs Euro für eine Achterbahnfahrt."

Oder für einen Krimi. Im Film spielt die Schwere des Verbrechens eine große Rolle, sagt Bandelow. Es reiche nicht, wenn jemandem 150 Euro gestohlen werden. "Da muss schon mindestens ein Kind entführt oder eine junge Frau ermordet werden." Wenn der Fall vom TV-Kommissar aufgelöst wird, werden Endorphine ausgeschüttet. "Das primitive Angstzentrum in unserem Gehirn kann zwischen Fernsehfilm und Realität nicht unterscheiden", so Bandelow.

Die Angst austricksen

Zu Halloween findet eine Auseinandersetzung mit dem Tod statt, erklärt der Angstforscher. "Die Leute verkleiden sich als Leiche, um ihre große Angst vor dem Tod ins Lächerliche zu ziehen. Zuerst erzeugt man Grusel, dann sagt man: ‚Ätsch bätsch, ich lebe noch.‘" Der Psychologe Alfred Lackner führt den Hype ums Horrorfest auf unseren Wunsch nach Aufregung zurück: "Wir sind erlebnishungrig. Halloween oder Krampus sind Inszenierungen, die diesen Kick bedienen."

Voraussetzung für ein lustvolles Angstgefühl: Der große Rahmen ist kalkulierbar, die Teilerlebnisse nicht. Lackner: "Das sieht man am Beispiel Geisterbahn: Man weiß genau, es passiert nichts. Trotzdem ist es ganz schön gruselig, wenn man durchs Finstere fährt und plötzlich von einer Hand berührt wird."

Halloween fasziniert vor allem Kinder. Gertraud Finger, Psychologin und Autorin des Buches "Brauchen Kinder Ängste?", weiß, warum: "Gruseln ist ein ganz intensives Gefühl. Es ist das einzige Gefühl, das zwei Seiten hat: die Angst und die Lust." Kinder fürchten sich vor einer Verkleidung, wissen aber, dass ihr Freund dahintersteckt. Auf der anderen Seite können die Kleinen selber erschrecken – und somit zeigen, wie stark sie sind.

Wenn nach dem Schreck ein Gefühl der Beruhigung kommt, kann Angst bei der Entwicklung helfen, sagt Finger, und nennt das Beispiel des Kindes, das sich von seinem Vater immer wieder in die Luft werfen und auffangen lässt. "Angstlust ist nur dann positiv, wenn ich weiß, ich bin sicher." Und das gilt für Kinder genauso wie für Erwachsene.

Den Jüngeren ginge es ums Überwinden ihrer Ängste, den Älteren um ein nostalgisches Wiederbeleben eines kindlichen Erlebnisses. Erklärt Hermann Molzer, der seit mehr als fünfzig Jahren an der Kassa der angeblich größten und längsten Geisterbahn der Welt Position bezieht, täglich viele Münzen in der Hand hält und dabei auch seine Kundschaft genau beobachten kann.

Die Geisterbahn im Prater, eine von vier Bahnen, die heute noch in Betrieb sind, hat der 72-jährige Wiener von seiner Mutter übernommen, um sie als das Erbe einer uralten Prater-Dynastie bis in die Gegenwart am Leben zu erhalten.

Warum wir Lust an der Angst haben
Geisterbahn Prater Lebensnah Blog

Legendär ist die einstürzende Brücke. Sie hat im Laufe der Jahrzehnte die Nerven von Zigtausend Menschen gekitzelt: Die einen kreischen, die anderen johlen. Jene, die gar nichts von sich geben, haben oft am meisten die Hose voll.

Die Faszination der 3 Minuten bzw. 200 Meter Angst beschreibt Molzer so: "Die Leute suchen das prickelnde Gefühl, ohne dass sie dabei die letzte Konsequenz zu tragen haben." Denn sie fahren weder auf einen lebensgefährlichen Berg rauf noch durch einen Dschungel. Nie riskieren sie im Vergnügungspark ihr Leben. "Und viel Geld kostet das Abenteuer bei mir auch nicht."

Seine Geisterbahn sei so gesehen wie ein gut gespieltes Drama. Der Mann weiß, wovon er spricht. Er ist weltweit der einzige Besitzer einer Geisterbahn, der auch als Theaterregisseur zu gefallen weiß. Denn wenn der Prater bald nach Halloween in seinen leicht depressiven Winterschlaf fällt, zieht es den Kunstschaffenden mit der donnernden Stimme hinaus in die Welt. Molzer hat in der kalten Jahreszeit auf großen Bühnen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands inszeniert.

Nach dem Frühlingserwachen wird er wieder mit der Angst auf seiner Praterbühne kokettieren und bare Münze verdienen. "Ur-fad", ruft ein Pubertierender seinen wartenden Schulkollegen nach dem Aussteigen zu. Muss er auch. Das verlangt das Drehbuch des jungen Lebens, das von Hormonen gesteuert wird. Problematischer sei es, wenn Menschen mit 35 noch immer das Bedürfnis hätten, sich als abgeklärt zu zeigen, erklärt Hermann Molzer.

Genau in dem Moment, in dem er lächelt, wird wieder ganz laut gekreischt.

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