Gefangen im Netz: Wenn einen das Smartphone verschlingt
Das Kalksburger Anton Proksch Institut ist Österreichs größte Sucht-Klinik. Seit Jahrzehnten arbeiten der Psychiater Roland Mader und der klinische Psychologe Oliver Scheibenbogen hier mit Patienten. Dem jungen Phänomen der Handy- und Internet-Sucht haben die beiden nun einen Ratgeber gewidmet (siehe unten). Laut einer Innsbrucker Studie ist bereits jeder zwanzigste Jugendliche handysüchtig.
KURIER: Sie schreiben, unser Gehirn empfindet das Mobiltelefon mitunter als dritte Hand und echten Körperteil. Ist das nicht übertrieben?
Oliver Scheibenbogen: Nein, man kann das medizinisch zeigen. So wie man bei Klavierspielern neuronale Veränderungen beobachtet, ist es auch beim Mobiltelefon sichtbar, dass unser Gehirn stark reagiert. Nomophobie, die Angst, das Handy nicht dabeizuhaben, ist ein reales Krankheitsbild. Studien zeigen, dass dieses subjektive Empfinden des Smartphones als Körperteil dazu führt, dass wir online sein müssen, weil wir uns sonst nicht komplett fühlen.
Aber es gibt doch auch die Angst, den Hausschlüssel oder anderes zu vergessen…
Roland Mader: Das Handy ist ein spezieller Gegenstand. Es deckt viele unserer Bedürfnisse ab, ist so etwas wie ein zweites Gehirn. Weil wir damit kommunizieren, persönliche Fotos, intime Erinnerungen und viele andere wichtige Informationen darauf speichern. Die Bedeutung des Handys ist um ein Vielfaches höher als beim Schlüssel.
Scheibenbogen: Außerdem deckt das Handy ein tief in uns liegendes Bedürfnis ab: das Bedürfnis nach Anschluss. Ich habe einmal ein Experiment mit Menschen gemacht, denen wir nur das Smartphone abgenommen haben. Sie waren völlig aufgeschmissen, weil sie nicht wussten: Woher bekomme ich Parkscheine, was haben die Freundinnen am Abend vor, worüber reden sie?
Mader: Wir verlassen uns einfach auf das Ding. Das ist prinzipiell kein Problem, weil Apps digitale Helfer sind, die uns den Alltag erleichtern können. Problematisch wird es, wenn wir das Smartphone unreflektiert verwenden und ihm eine immer größere Bedeutung im Alltag beimessen.
Sie empfehlen, dass Kinder unter 12 Jahren kein Smartphone haben sollten. Ist das nicht praxisfern?
Mader: Das sind Richtlinien. Das Allerwichtigste ist, das Mobiltelefon nicht zu verwenden, ohne darüber nachzudenken. Man darf Kindern das Handy nicht einfach in die Hand drücken und sagen: „Beschäftige dich damit und sei ruhig.“ Also: Immer wieder reflektieren, Zeitlimits vereinbaren, Dinge in der realen Welt unternehmen. Das ist ein ewiger Kampf, aber: Man muss bereit sein, ihn auf sich zu nehmen. Nur dann lernen Kinder, mit Medien und Handys kompetent umzugehen.
Scheibenbogen: Kinder haben nicht so starke Kontrollmechanismen, sie sind emotionaler und anfälliger für Verführungen, die Smartphone, Tablet und Co. bieten. Kinder brauchen jemanden, der sie in die Kulturtechniken einführt. Man kann Vergleiche zum Alkohol ziehen. Alkohol ist eine uralte Droge, und hier ist es am besten, wenn die Eltern die Kinder ein Stück weit einführen, wie man mit dieser Droge richtig umgeht.
Also nicht verteufeln?
Scheibenbogen: Richtig. Verteufeln weckt Neugier und sorgt dafür, dass es im Verborgenen stattfindet.
- Nutzungszeit begrenzen Ob Android oder iPhone: Mit Programmen, die die Bildschirmzeit regulieren, können Eltern einen Überblick bekommen, was ihre Kinder online konsumieren. Es empfiehlt sich, das Smartphone in der Nacht (22–7 Uhr) abzuschalten und für Social-Media-Aktivitäten höchstens 30 Minuten am Tag einzurichten
- Handyfreie Zonen schaffenIm Schlafzimmer oder am Esstisch müssen Handys nicht präsent sein – schon ein liegendes Smartphone erzeugt Erwartungshaltung („Kommt eine Nachricht?“) und somit Stress
- Interesse zeigen Wichtig ist, dass Eltern immer wieder nachfragen, was Kinder am Handy tun – auch wenn es Ego-Shooter sind
- Handyfreie Tage planen Eltern und Kinder sollten bei Tagesausflügen aufs Handy verzichten. Das entschleunigt und führt abends dazu, dass man sieht, wie wenig man verpasst hat
Was ist gesichertes Wissen, was Handy-Missbrauch mit Menschen anrichtet?
Mader: Aus der Hirnforschung weiß man, dass das mit der Hand geschriebene Wort viel besser gespeichert wird als das getippte. Insofern ist es bedenklich, wenn man ausschließlich auf iPad-Klassen setzt. Digitale Medien sind eine gute Ergänzung für manche Lerninhalte. Aber viel wichtiger ist, den Kindern Medienkompetenz beizubringen, und sie über Fake News oder Cybermobbing aufzuklären.
Ist Empathie online lernbar?
Scheibenbogen: Nein. Alles, was Bindungen angeht, funktioniert nicht online. Ur- und Selbstvertrauen bekommt man durch eine intensive Beziehungserfahrung mit den Eltern. Das beginnt schon bei Jungmüttern: Wir wissen gesichert, dass starker Handygebrauch beim Stillen die Beziehung zum Baby beeinflusst. Wir wissen nur nicht, wie schädlich der Einfluss ist.
Mader: Wenn ich Gefühle oder ein Gesicht wahrnehmen will, brauche ich Mimik, eine Körperhaltung etc. Ein Emoji kann das nicht.
- Kontrollverlust Fällt es gegen den eigenen Willen schwer oder wird es unmöglich, für eine bestimmte Zeit (z. B. während eines Tagesausflugs) ganz auf Social Media oder das Handy zu verzichten, gilt das als belastbares Indiz für ein Suchtverhalten
- Leistung sinkt Wenn bei Jugendlichen die schulische und bei Erwachsenen die berufliche Leistung sinkt und gleichzeitig ein erheblicher Teil des Tages am Handy verbracht wird, ist Obacht geboten
- Häufige Konflikte mit Bezugspersonen Sozialer Rückzug und zunehmende Konflikte mit wichtigen Bezugspersonen (Familie, enge Freunde) können ein Indiz sein, dass das Handy zu viel Raum einnimmt. Anlass für die Konflikte sind oft das Lügen und Vorgeben, weniger Zeit mit Social Media und dem Handy zu verbringen, als dies der Fall ist
- Körperliche Konsequenzen Schlafmangel oder Gewichtsveränderungen sind als physische Symptome mitunter sichtbar
Was kann man über ihre Patienten mit Internet-Sucht sagen? Was sind die häufigsten Erkrankungen?
Mader: Die meisten Patienten sind junge Männer, und hier ist besonders das Online-Gaming stark. Bei den Mädchen ist es die Abhängigkeit von Social Media. Und insgesamt wächst der Bereich der Pornografie-Sucht am stärksten.
Wie geht es Ihnen mit Kindern, die zusammensitzen – aber vor dem Handybildschirm?
Mader: Gift ist eine Frage der Dosis. Wenn Kinder zusammensitzen und am Handy spielen, das Gerät dann aber auf die Seite legen, miteinander reden und herumlaufen, ist das in Ordnung. Wir müssen einfach verstehen, dass ein Smartphone immer etwas mit uns macht. Selbst wenn es ausgeschaltet einfach auf dem Tisch liegt, zieht es Aufmerksamkeit auf sich.
Scheibenbogen: Wir müssen uns wieder zur Langeweile erziehen. Heute hat jeder das Gefühl, wenn er bei der Bushaltestelle steht, muss er viel Aktivität in die Wartezeit packen: eMails lesen, etwas spielen, Nachrichten checken etc. Dabei wäre es so wichtig, Leerläufe zuzulassen. Eine Pause ohne Smartphone ist Zeit zur Kontemplation, zum Erholen. Immer, wenn wir zart anfangen, uns zu langweilen, sind wir am kreativsten.
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