Wien hinter den Tränen
Die Klinische und Gesundheitspsychologin ist früh in diesem Jahr in bestechender Form. Dabei ist der Berglauf auf den Schneeberg (10 Kilometer, 1.200 Höhenmeter) erst im Juni und der Lauf auf den Großglockner (13, 1.200) im Juli. Sie ist immer schon gerne gelaufen. Dass die 43-jährige MS-Patientin heute zu den besten Bergläuferinnen Niederösterreichs zählt, ist für sie noch mehr Ansporn.
Gut erinnert sie sich: „An die verschwommenen Lichter von Wien, als ich mit meiner ärztlichen Diagnose heimgeradelt bin.“ Die abendliche Stadt verschwand hinter den Tränen. Dazu mischten sich all die bohrenden Fragen: Wie wird das sein, wenn ich hilflos im Rollstuhl sitze? Wer wird sich dann um meine Kinder kümmern? Um den Bau unseres Hauses? Und nicht zuletzt: Wie soll ich als Selbstständige weiterarbeiten?
Doch wie schon gesagt: „Ich habe schon einige Male in meinem Leben meinen eigenen Weg gesucht.“
Schritt für Schritt habe sie diesen auch hier gefunden: Nach einer relativ kurzen Schockphase begann sie mit dem Laufen. Hinsichtlich der Ernährung achtete sie genau darauf, keine Lebensmittel zu sich zu nehmen, die in ihrem Nervensystem Entzündungen hervorrufen könnten.
„Die Stressreduktion ist in meinem System die dritte Säule“, erklärt die Mutter von zwei Kindern in der Pubertät und einem Nachzügler in der Trotzphase. Offensichtlich ist ihr System nicht so schlecht. „Und 50 Kilometer Training in der Woche gehen sich auch noch aus“, eröffnet die spätberufene Bergläuferin mit Leuchten in ihren Augen.
Feriencamps für Geschwister
Ein Anliegen ist Judith Raunig auch ihre Arbeit für den privaten Verein Tralalobe. Der organisiert für die Geschwister von schwer kranken oder verstorbenen Kindern ein psychotherapeutisch-erlebnispädagogisches Sommercamp, „wo die Aufmerksamkeit nur auf sie gerichtet ist“.
Für die Camps im Yspertal brennt die Psychologin so wie für ihre Beratungstätigkeit als betroffene MS-Patientin: „Es passieren dort jedes Mal aufs Neue kleine Wunder. Wenn du siehst, welche Sorgen auf den Kindern lasten, wenn sie im Camp ankommen, und wie viel Freude, Gelöstheit und Frieden sie schon nach den ersten Tagen ausstrahlen, dann ist das einfach schön.“
Teilnahmeberechtigt sind Kinder zwischen 10 und 15 Jahren. Und es gibt noch zwei weitere gute Nachrichten: „Für die Eltern fallen nur die Kosten für An- und Abreise an.“ Und: „Wir haben derzeit noch einige freie Plätze.“
Nach dem Kaiserschnitt
Es wäre nicht Judith Raunig, hätte sie sich vor 15 Jahren nach der Geburt ihres ersten Kindes mit dem von Ärzten gehörten „Hauptsache, das Kind ist gesund“ abgefunden.
Nein, sie war nach dem Kaiserschnitt im Kreißsaal nicht 100 Prozent glücklich, dass sie ihr Baby gesund zur Welt gebracht hatte. Und ja, es plagten sie intime Gefühle des Verletztseins, der Scham und des Versagthabens.
Heute teilt die erfahrene Psychologin die Selbstzweifel mit Frauen, die in ihre Praxis kommen und Ähnliches erlebt haben. Für den Film mit dem Titel „Meine Narbe“ hat sie die bisher wenig bekannten Probleme gut aufbereitet.
Judith Raunig ist eine von den Mutmachern in diesem Land, die schätzen können, was sie besitzen, und die nicht missmutig sind, dass sie nicht noch viel mehr haben. Natürlich würde es sie freuen, wenn eines der bestdotierten Gesundheitssysteme der Welt mehr Geld für die pflegenden Angehörigen oder auch die sportelnden MS-Patienten flüssig machen könnte. „Aber wenn das im Moment nicht möglich ist, dann kann es ja eines Tages möglich werden.“
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