"Es muss nicht jeder Schüler gleich begabt sein"

Helmuth Aigner ist nach einem Intermezzo in Bayern wieder Direktor in Österreich
Der Wiener Helmuth Aigner kennt viele Schulsysteme von innen. Was er sich für Österreich wünscht.

Der Pädagoge Helmuth Aigner hat für österreichische Verhältnisse eine ungewöhnliche Karriere gemacht: Er ist nun bereits an der fünften Schulen Direktor. Begonnen hat er in Wien, wechselte dann nach München, wo er die Europäische Schule sowie später ein Privatgymnasium leitete. Jetzt ist er Direktor des Akademischen Gymnasiums in Innsbruck. Im KURIER spricht er über guten Unterricht, Schulpartnerschaft und PISA-Gläubigkeit.

KURIER: Sie kennen einige Schulsysteme von innen. Welches hat Ihnen besonders gut gefallen?
Helmuth Aigner:
Für mich ist das System der Europäischen Schule das beste der Welt – auch wenn ich weiß, dass man mit einer solchen Wertung vorsichtig sein muss. (Schulen wurde von EU-Staaten für Kinder von EU-Beamten gegründet, Anm.)

Was ist da so vorbildlich?
Es wird so differenzierend und individualisierend unterrichtet, dass Schüler optimal an das europäische Zentralabitur herangeführt werden. Die Grundidee ist: Es muss nicht jeder Schüler gleich begabt sein, aber jeder muss Grundkenntnisse in allen Fächern haben. Deshalb wird ab der 7. Schulstufe in Modulen unterrichtet. Die Schüler können zum Beispiel wählen, ob sie Mathematik mit 3, 5, oder 7 Wochenstunden belegen.
Der Vorteil: Die Schüler haben Erfolgserlebnisse in Fächern, in denen sie schwach sind oder keine große Neigung haben. Auch begabte Schüler wurden optimal gefördert. So belegten z.B. die französischen Schüler, die eine Naturwissenschaft studieren wollen, das 7-Stunden-Mathe-Modul.

Werden die Schüler auch außerhalb der Stunden gefördert?
Ja. Es gibt eine breiten Palette an Förderungen. Etwa der Learning Support. Das ist ein sehr intensives Fördermodell. Daneben gibt es das Programm „Special Educational Needs“ für Kinder, bei denen Teilleistungsschwächen wie Dyskalkulie oder Legasthenie diagnostiziert wurde. Die Schüler werden während der Unterrichtszeit gezielt gefördert.

Davon von kann man in Österreich nur träumen.
Eine solche Schule ist natürlich teuer. Die EU steckt viel Geld hinein, weil dies Modellschulen sind, die zeigen sollen, wie Schule am besten gelingt. Auf Grund der Aufnahmepolitik handelt es sich eigentlich um eine Gesamtschule mit einer inhomogenen Schülerschaft: Kinder vom Kindergarten bis zum Gymnasium werden hier unterrichtet. Es werden alle Kinder von EU-Beamten aufgenommen, unabhängig davon, welche Schule sie zuvor besuchte haben. Trotzdem ist die Erfolgsquote extrem hoch.

"Es muss nicht jeder Schüler gleich begabt sein"
Helmuth Aigner, Direktor Akademisches Gymnasium

Was konnten sie als Direktor am Standort entscheiden?
Die oberste Schulbehörde mit Sitz in Brüssel gibt zentral klare Vorgaben. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich am Standort mit meinem Kollegium vieles frei entscheiden konnte.

Was war vorgegeben?

Rahmenbedingungen wie die Stundentafel, Eröffnungszahlen oder das Budget. Diese Vorgaben gibt es. Dennoch soll sich das System weiterentwickeln. Das passiert im engen Austausch mit den Schulpartnern, also mit Eltern, Schülern, Lehrern und dem Direktor. Der aktuelle Generalsekretär – der Finne Kari Kivinen– hatte hervorragende Ansätze, wie man die Qualität verbessert.

Wie sahen die aus?
Er erkannte, dass die Qualitätssicherung am Standort den Unterricht extrem verbessert. Es gibt ein System, das Lehrer anregt und motiviert. Eine schöne Maßnahme ist z.B. ein Feedback-System „Schüler-Lehrer“ und „Eltern-Lehrer“. Ein für alle Schulen verbindliches Feedbacksystem ist übrigens vor einem Jahr auch in Tirol vom Landesschulrat initiiert worden.

Was bringen solche Systeme?
Es wird nicht über den Schüler hinweg unterrichtet, wenn ich Lehrer in eine Schulkultur einbette, in der es für sie selbstverständlich wird, sich Feedback zu holen und die Qualität des Unterrichts anzupassen. Noten sind nicht mehr nur eine Rückmeldung an die Schüler, sondern auch an die Lehrer.

Reden wir über die Qualität des Unterrichts und der Lehrer. Fakt ist, dass die Kontrolle durch die Schulaufsicht in Österreich häufig versagt. Was könnte man da anders machen?

An der Europäischen Schule gibt es auch eine externe Kontrolle, mit so vielen Inspektoren wie in keinem anderen Schulsystem. Der Mix aus interner und externer Qualitätssicherung führt zur maximalen Verbesserung des Unterrichts.

Wie sieht die externe Kontrolle aus?
In Österreich ist ein Landesschulinspektor für eine Schule zuständig. Im europäischen System gibt es Inspektorenteams. Dieses beobachtet z.B. den naturwissenschaftlichen Unterricht eine ganze Woche lang. Es befragt Kollegen, Direktoren, Schüler und Eltern. So entsteht ein Bild, das der Schule rückgemeldet wird. Unter der Moderation des Direktors sind die Ergebnisse zu verarbeiten. Kollegen kommen unter Zugzwang, wenn die Fächer schlecht laufen.

Wie viele Schulautonomie wünschen sie sich?

Da habe ich in Laufe der Zeit dazugelernt. Zu Beginn meiner Laufbahn wollte ich maximale Autonomie. Später erkannte ich auch die Vorteile der zentralen Steuerung und Verwaltung eines Schulsystems. In Innsbruck bin ich zufrieden. Ich kann mitgestalten – auch beim Personal , wenn man im guten Einvernehmen mit dem Behörden steht. Hier in Tirol gibt es eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Behörde. Etwas mehr bürokratisch sind generell an Bundesschulen bauliche Fragen und die Beschaffung für Schulen zu klären. In der Pädagogik habe ich dagegen große Autonomie.

Sie wünschen sich als Direktor Aufnahme-Gespräche mit den Schülern, um zu entscheiden ob Sie ein Kind aufnehmen. Das ist auch eine Form der Autonomie.

Ja. Als Direktor will ich Schüler nicht als Karteikarte aufnehmen. Ich will mir persönlich Zeit nehmen, um mit dem Kind sowie seinen Eltern zu reden. Gemeinsam entscheiden wir, welches die passendste Schule ist. Da haben wir schon Autonomie. In Tirol ist das Aufnahmesystem für die 1. Klassen sehr ausgeklügelt und durchdacht. Mit eine Rolle spielen auch die Noten der 3. und 4. Klasse. Daneben gibt es Aufnahmekriterien, bei denen die Leistung nur einen Teil ausmacht.

Die Schulsysteme in Bayern und Österreich sind finanziell beide gleich gut ausgestattet. Dennoch schneiden die Bayern bei PISA deutlich besser ab. Was machen die Nachbarn besser?
Das klassische staatliche bayerische Schulsystem hat Erfolge im Hinblick auf kognitive Wissensvermittlung – auch weil dort seit langem durch das Zentralabitur auf die Vorbereitung der Prüfungen hingearbeitet werden muss. Stellt sich die Frage, ob das auch nachhaltig ist. Ich bin kein PISA-Freund. Es tut mir weh, dass man sich daran so eng orientiert. Wenn ich PISA-Ergebnisse überlappe mit den Qualitätskriterien für guten Unterricht, dann klafft da eine große Lücke.

Wenn sie sich etwas wünschen würde, was wäre das?

Dass das Europäische Schulmodell abfärbt in viele Schulsysteme Europas. Also Individualisierung, Modularisierung, Qualitätssicherung, Binnendifferenzierung in der Unterrichsmethodik. Wenn ich mir nur eine Sache wünschen dürfte, dann wären das die Erziehungsberater. Als ich Direktor war, hatten wir einen Berater je 200 Schüler. Er ist in einer Sandwich-Positionen zwischen Eltern, Schülern, Lehrern und Direktor. Seine Aufgabe reichte vom Disziplinieren bis zur Leistungs- und Begabungsförderung. Diese Einrichtung lohnt sich mehrfach lohnt und kommt direkt beim Schüler an. Er ist begleitender Lerncoach.

Ist es nötig, die Pädagogen besser auszuwählen?

Es muss zu einer kontinuierlichen Professionalisierung kommen. Wir brauchen entsprechende Aus-, Fortbildung und Qualifizierungsmaßnahmen.

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