Ein Kosmos im Kopf, den niemand versteht. Noch nicht

Very high resolution 3d rendering of an human brain.
Was passiert, wenn ein Mensch tüftelt, lernt und fühlt?

Zum Auftakt der großen Rätselspaß-Serie des KURIER sprechen renommierte Wissenschaftler über Faszination und Geheimnis des menschlichen Gehirns. Was die Schauspielerin Jennifer Aniston mit Hirnforschung zu tun hat?

Ganz einfach: Man schrieb das Jahr 2005, als die Forscher rund um Rodrigo Quian Quiroga von der University of Leicester aus dem Staunen nicht mehr herauskamen: Soeben hatten sie eine einzige Nervenzelle im Schläfenlappen eines Menschen entdeckt, die nur „feuerte“, wenn ihrem „Besitzer“ Fotos des schönen Hollywood-Stars gezeigt wurde. „Ich konnte es nicht fassen“, sagte der Wissenschaftler. Denn bisher war man davon ausgegangen, dass bei komplexen Vorgängen wie Wiedererkennung, Identifikation oder Wahrnehmung ein Netzwerk an Neuronen (Nervenzellen) beteiligt sein musste.

Aber nein – es wurden weitere Neuronen mit individuellen Vorlieben entdeckt: Etwa eine, die auf Pamela Andersons Namen, Karikatur oder Foto „abfuhr“. Mittlerweile kennt man auch eine „Halle-Berry-Zelle“ oder Neuronen für den Schiefen Turm von Pisa, Spinnen und Seehunde.

Diese amüsante Geschichte zeigt, was der Mensch vom Gehirn weiß: eher wenig. Als Gesamtkomplex ist es nach wie vor rätselhaft und unerforscht. Rafael Yuste von der Columbia University in New York bringt es auf den Punkt: „Obwohl wir seit mehr als 100 Jahren Daten sammeln, haben wir immer noch keine Ahnung, wie das Gehirn wirklich funktioniert. Es baut sich aus unzähligen Neuronen auf. In den vergangenen Jahrzehnten haben Neurowissenschaftler Elektronen auf Köpfe gesetzt und die Aktivitäten einzelner Neuronen gemessen.“ Um ein besseres Bild vom „Geheimnis Gehirn“ zu bekommen, verwendet Yuste ein Gleichnis: „Das ist ungefähr so, als wollten sie einen Film anschauen, kriegen aber nur einige Pixel zu sehen.“ Der Wunschtraum der Gehirnforscher ist es, alle Pixel zu „bekommen“.

Das Gehirn entschlüsseln

Auch Yuste träumt davon – der Neurologe ist einer der Initiatoren des von US-Präsident Barack Obama groß angekündigten Drei-Milliarden-Dollar schweren Brain Activity Map Projects: „Hier wollen wir Techniken entwickeln, mit deren Hilfe wir die Aktivität jeder einzelnen Nervenzelle im Gehirn messen können.“ Mit dem visionären Ziel, eine gigantische Karte der gesamten Hirnaktivitäten des Menschen erstellen zu können. Trotzdem der Wettlauf zum Gehirn begonnen hat, müssen sich die Wissenschaftler noch ein wenig bescheiden: „Natürlich werden wir klein anfangen. Erst in Würmern, später in Zebrafischen, schließlich im Gehirn von Mäusen oder gar Menschen.“

Was aber ist so faszinierend am menschlichen Denkorgan?

Für den Neuropsychologen Rainer Bösel – Psychoanalytische Hochschule Berlin – beginnt dessen Faszination bereits im Mutterleib, beim werdenden Menschen: „Da ist die große Zahl an Schaltstellen, von denen jede einen kleinen Prozessor darstellt und deren Zahl im Bereich von zweistelligen Zehnerpotenzen liegt. Während der vorgeburtlichen Entwicklung entstehen davon etwa 40.000 – und zwar durchschnittlich jede Sekunde.“

Das Gehirn – ein Wunderwerk? Ja, meint Jürgen Sandkühler, Leiter des Zentrums für Hirnforschung in Wien: „Obwohl ich ein naturwissenschaftlich orientierter Forscher bin, würde ich das Gehirn und die Leistungen, die es erbringen kann, eher als ein Wunder bezeichnen als ein naturwissenschaftlich zu beschreibendes Organ. Wenn man sich vorstellt, dass es aus etwa 10 hoch 11 Nervenzellen besteht, die eine Million Verbindungen miteinander machen und sich überlegt, dass dieses hochkomplexe Gebilde veränderbar – also nicht statisch – ist, dann ist das ein Wunder, das wir besser verstehen wollen. “

Für den Neurowissenschaftler Peter Jonas vom Institut of Science and Technology in Klosterneuburg, ist die gigantische Geschwindigkeit des Gehirns ein weiterer nennenswerter Aspekt: „Es ist beeindruckend, dass manche Signal-Prozesse in Tausendstelsekunden ablaufen, obwohl sie aus zahlreichen physikalischen und chemischen Teilschritten bestehen.“

Schnell und effizient

Ihn fasziniere außerdem die energetische Effizienz des Gehirns: „Es ist erstaunlich, dass es einen Energieverbrauch von zirka 20 Watt hat, das entspricht dem Energieverbrauch eines modernen LED Leuchtmittels. Wenn man aber versucht, die Leistung des Gehirns in einem Supercomputer zu simulieren, beträgt der Energieverbrauch viele Kilowatt, ist also um Größenordnungen höher. Wir können aus dem Gehirn sehr gut lernen, wie man energieeffiziente Computer baut.“

Die größten Geheimnisse sind für ihn aber in den zugrunde liegenden Mechanismen des Gehirns verborgen: „Wir wissen recht gut, welche Funktionen im Gehirn realisiert werden: Lernen, Entwerfen motorischer Programme, Erkennung von Bildmustern. Die Frage ist, wie dies geschieht.“ Das wäre die zentrale Herausforderung für das nächste Jahrzehnt. Trotz aller rechnerischen Funktionalität ist es unser Gehirn, das uns zum denkenden und fühlenden Menschen macht – wie der Neuropsychologe Bösel betont: „Am überraschendsten und bedeutungsvollsten scheint mir die Erkenntnis zu sein, dass jeder Teil des Gehirns in hohem Maße Funktionen für das Zusammenleben mit anderen zur Verfügung stellt. Wir Menschen haben nicht nur ein unglaublich gutes soziales Gespür. Unser Stirnhirn ist mit einer Fülle von Funktionen ausgestattet, die uns in hohem Grade befähigen, in unserem Handeln Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Menschen zu nehmen.“

Ob es jemals möglich sein wird, das menschliche Denkorgan zu begreifen? Derzeit müssen sich Forscher mit vielen Mini-Einzelschritten begnügen – und mit Erkenntnissen, die sich auf die kleinste Einheit des Gehirns, die Nervenzelle, beschränken, oder auf kleine neuronale Netzwerke. Jürgen Sandkühler: „Da gibt es detailliertes Wissen. Etwa, wie Überträgerstoffe Informationen von einer Nervenzelle zur anderen übertragen, wie diese funktionieren und wie deren Rezeptoren auf molekularer Ebene arbeiten. Wir wissen, wie einzelne Nervenzellen Informationen codieren und an die nächste Zelle weitergeben. Aber es fehlen viele Details.“

Hirn als Supercomputer

Die Hoffnung auf Erkenntnis wird auch in Europa durch ein Megaprojekt genährt. Ende Januar erhob die EU das Human Brain Project in den Rang eines Flagschiffprojektes, eine Milliarde Euro, verteilt auf zehn Jahre, „schwer“. Wissenschaftler aus vielerlei Disziplinen und 130 Universitäten aus aller Welt arbeiten zusammen. Ihr ambitioniertes Ziel: die Entwicklung eines Supercomputers, der die Arbeit des Gehirns bis auf die Ebene der Neuronen simuliert. Und im Detail zeigen soll, was im Kopf passiert, wenn der Mensch denkt und fühlt.

Zehn Billionen „künstliche“ Synapsen, die auch das Rätsel vieler Krankheiten im Kopf lösen könnten. 2023 soll es so weit sein.

Ein Kosmos im Kopf, den niemand versteht. Noch nicht

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