Der Weg braucht kein Ziel

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Der Trend reißt nicht ab. Was begeistert daran? Zur Wander-WM im September kommen Tausende. Eine Erklärung.

Vielleicht sucht eine Gesellschaft immer den Ausgleich. Wenn sie vermehrt im Sitzen arbeitet, verbringt sie mehr Freizeit gehend? Wenn der Alltag Menschen zunehmend antreibt, gehen sie zur Erholung bewusst langsamer? Wenn das meiste Tun dem Erreichen eines Zieles dient, sehnt sich das Individuum dann mehr nach dem Weg?

Es wäre eine Erklärung für das Phänomen, warum der Trend zum grundlosen Gehen seit 20 Jahren nicht enden will. Er äußert sich in der neuen Liebe zum Spazieren, in einer überblähten Nordic-Walking-Industrie, in einer steigenden Zahl an Trekking- und Pilger-Angeboten. Die deutlichste Spur hinterlässt er aber im ungebrochenen Wanderboom.

Der Weg braucht kein Ziel
Wandern Tauplitz Bad Mitterndorf, Wandern Wanderboom und Wander WM, Honoarfrei, Tourismusverband Salzkammergut
Ein Hauptgrund dafür ist der niederschwellige Einstieg: Wer gehen kann, kann wandern. Zwar steigt auch das Interesse am technisch aufwendigen Klettern seit Jahren, aber noch stärker fluten Wander-Einsteiger die Berge. Wo Alpin-Regionen lange das Schroffe und Extreme der Berge beworben haben, werden heute Wanderwege begradigt. Ernst Kammerer, Geschäftsführer des Tourismusverbandes AusseerlandSalzkammergut, sieht darin naturgemäß kein Problem: "Wir bemühen uns einfach, für unterschiedliche Bedürfnisse die richtigen Angebote zu haben." Je mehr schlecht vorbereitete Menschen aber die Berge erreichen, desto mehr Gedanken werden sich Verantwortliche künftig machen müssen, wo die Grenze zwischen Wandern und Bergsteigen verläuft – zur Unfallprävention.

Die mehr als 1000 Teilnehmer der Wander-Weltmeisterschaft, die Ende September in Tauplitz und Bad Mitterndorf stattfindet, kennen diese Grenzen. Die meisten von ihnen betreiben Wandern seit vielen Jahren und als Vollzeit-Hobby. Walter Ziehlinger vom Österreichischen Volkssportverband (ÖVV), der die WM jährlich veranstaltet, erklärt den Geist dieser Wanderer: "Wenn ich für sechs Kilometer den ganzen Tag brauche, weil ich mir zwischendurch auch die Sehenswürdigkeiten und Gasthäuser anschaue, passt das genau so."

Gefühl des Gehens

Für Wandern nimmt man sich also Zeit, die im Alltag fehlt. "Es ist das Fortbewegen mit sich selbst, nur mit den Füßen, bei dem man die Natur und ein Gebiet mit eigenem Gefühl wahrnimmt. Ähnlich dem Zugfahren: Dabei komme ich nicht nur von A nach B, sondern habe auch das Gefühl des Zugfahrens." Wander-Neulinge beschreiben oft die Faszination des Ver-Gangenen, des Weges, der auf die einfachste Art zurückgelegt wird.

Der Weg braucht kein Ziel
Wandern Wander Weltmeisterschaft Tauplitz Österreichischer Volkssport Verein © Walter Ziehlinger, honorarfreei für Geschichte Wandern Mein Sonntag 15.8.2015
Wegen dieser Einfachheit – man braucht keine Spezialausrüstung oder Liftkarten – ist der Trend aber schwer messbar. Als Kennzahl dient oft der Umsatz der Ausrüstungsindustrie – zuletzt europaweit zehn Milliarden Euro. Die Unschärfe dabei: Jene, die keine neuen Superschuhe und -stöcke kaufen. Und dass viele Outdoorjacken wie -hosen nur bei Nieselregen in der Stadt getragen werden. Denn Werbeslogans wie "Ich bin raus (Schöffel) und "Draußen zu Hause" ( Jack Wolfskin) zeigen, dass es bei der Berg-Sehnsucht oft nur um das Befriedigen eines Traumes geht.

Die Frage, warum so viele tatsächlich auf den Berg gehen, beantwortet ein alter Sinnspruch unter Alpinisten: Man geht auf den Berg, weil er da ist. Diese Unaufgeregtheit gefällt vielen, in den Bergen wollen sich Menschen gegenseitig weniger beweisen als im Tal. Deshalb gehe es bei der WM nicht unbedingt um Sieg, sagt Ziehlinger: "Elementare Regel aller Veranstaltungen des Internationalen Volkssportverbandes ist, dass es keine Sieger und Verlierer gibt. Bei der ersten WM 2003 wollte der Veranstalter Saalbach-Hinterglemm aber eine WM austragen. Der Kompromiss für uns ist, dass es bei der WM nicht um Zeit geht, sondern um eine Gruppenwertung über erwanderte Kilometer."

Wander-Gesellschaft

Der Ehrgeiz, Weltmeister zu werden, schlägt sich daher oft darin nieder, eine möglichst große Gruppe zu begeistern. Der vierfache Sieger, die "Wanderkameraden Wien", vereinen viele kleine Wandervereine und melden sich als eine Gruppe an. Geselligkeit ist ein tragendes Element der Veranstaltung, von der Eröffnungszeremonie bis zur Schlussveranstaltung in der Grimminghalle von Bad Mitterndorf, vom Auftritt heimischer Musikgruppen bis zur Hochzeit, die im Rahmen der Wander-WM 2013 stattfand: Zwei Mitglieder der "Wanderkameraden Koala International" aus Deutschland gaben einander damals in Wanderkleidung und unter Anwesenheit des ÖVV-Präsidiums das Jawort. Eigentlich klar, dass die meisten "alles Gute für die gemeinsame Wanderung im Leben" wünschten.

Den Gemeinschaftssinn erkennt auch Tourismus-Chef Kammerer als ein Motiv von Wander-Fans: "Ich empfinde die Wander-WM als sehr gedämpften Wettkampf. Im Zentrum steht die Kommunikation. Natürlich gibt es Ehrgeiz, aber ich habe das immer als Geselligkeitsveranstaltung gesehen. Das ist auch im Sinne der Volksgesundheit, weil es sicher gesünder als ein verbissenes Fighten um Zehntelsekunden ist."

Geeignet für Sportmuffel

Damit spricht Kammerer eine wesentliche Zutat im Erfolgsrezept Wander an: Der anhaltende Fitnesstrend sucht immer neue Kanäle, besonders für beharrlich Fitness-Unwillige. Da man Wandern in selbst gewähltem Tempo und Regelmäßigkeit betreibt, sich dabei kaum überfordert, und dennoch schwitzt, kommt es auch bei Sportmuffeln gut an. Darüber hinaus bestätigen alle Experten, wie gesund es ist: ein gleichmäßiger Mix aus Ausdauer- und Kraft-Training, rund 600 Kalorien Verbrauch pro Stunde, dabei gleichzeitig Aufbau von Muskelmasse. Zudem äußern Mediziner zunehmend den Verdacht, dass Wandern ein lang gesuchtes Mittel zum Senken des bösen Cholesterins (LDL) sein könnte.

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Wandern Wander Weltmeisterschaft Tauplitz Österreichischer Volkssport Verein © Walter Ziehlinger, honorarfreei für Geschichte Wandern Mein Sonntag 15.8.2015
Die Bedeutung als Sommersportart ist auch für den Tourismus hoch: 37 Prozent aller Gäste im Sommer 2014 waren Wanderurlauber, die meisten aus Deutschland. Kammerer: "Den alpinen Regionen wurden vor 20 Jahren von den gut bezahlten Branchenhellsehern keine Überlebenschancen im Sommer zugebilligt." Die große Frage wird sein, ob sich der Boom auf die nächste Generation überträgt. Auch die WM ist laut Ziehlinger keine ganz junge Veranstaltung, auch wenn regionale Schulklassen manchmal mitmachen: "Kinder gehen oft mit den Eltern wandern, aber ab 13 oder 14 ist es meist aus." Ob man als junger Erwachsener wieder damit beginnt, liegt daran, ob die Eltern es einem schmackhaft gemacht haben. Ähnlich wie beim Skifahren.

Gut, dass gerade Familien Wandern als günstige und abenteuerliche Urlaubsmöglichkeit entdecken. Kammerer: "Die Wanderer sind jünger geworden. Es hat sich herumgesprochen, dass Urlaub erkämpft worden ist, um sich vom Arbeitsalltag zu erholen. Und dafür ist das Wandern unschlagbar."

Infos zur Wander-WM

Der Weg braucht kein Ziel
Wandern Wander Weltmeisterschaft Tauplitz Österreichischer Volkssport Verein © Walter Ziehlinger, honorarfreei für Geschichte Wandern Mein Sonntag 15.8.2015
Als der Österreichische Volkssportverband ÖVV 2003 einen Wander-Event in Saalbach-Hinterglemm veranstalten wollte, bat der Ort um eine „Weltmeisterschaft“. Daher findet heuer die 13. WM statt, bei der es nicht um den Wettkampf geht: Da der IVV (Int. Volkssportverband) streng „Sieger“ und „Verlierer“ verbietet, entscheidet nicht die Zeit, sondern ausschließlich die Kilometersumme, die eine Teilnehmer-Gruppe erwandert. 2014 gewannen die „Störche aus dem Elsass“ mit 5589 Kilometern. Die WM findet immer in Österreich statt, jeder kann teilnehmen.

Heuer veranstaltet sie der ÖVV wie 2009 in Bad Mitterndorf und Tauplitz. Der nicht politische Verband besteht aus 150 Vereinen. Als sich der IVV 1968 in Österreich, Liechtenstein, Deutschland und der Schweiz gründete, war „Volkssport“ das Pendant zu „Leistungssport“. Heute vernetzt er 40 nationale Verbände von Brasilien bis Taiwan, die Wandertage und -wochen organisieren und Wege betreuen.

Wander-WM: 24.–26. 9. in Tauplitz/Bad Mitterndorf (davor IVV-Wanderwoche 19.–23. 9.). Unterkünfte: TV AusseerlandSalzkammergut (www.ausseerland.at): 03623 / 24 44, eMail: info.badmitterndorf@ausseerland.at

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