Zum 80er wünscht sich der Dalai Lama weniger Religion

Zum 80er wünscht sich der Dalai Lama weniger Religion
Zum 80. Geburtstag erklärt die tibetische Leitfigur, warum die Welt mehr Ethik statt Religion braucht.

Genau genommen ist der Dalai Lama eine hochstehende Figur einer buddhistischen Denkrichtung (Schule), nicht einmal ihr Führer. In der westlichen Welt ist er trotzdem seit Jahrzehnten der Popstar der Spiritualität, seine Vorträge füllen Hallen.

Zum 80er wünscht sich der Dalai Lama weniger Religion
(GERMANY OUT) Dalai Lama, 14. *06.07.1935-(eigentlich Tendzin Gyatsho)Geistliches Oberhaupt der Tibeter, ChinaFriedensnobelpreis 1989- Portrait- 1956 (Photo by ullstein bild/ullstein bild via Getty Images)
Zu seinem 80. Geburtstag lässt er die Welt wieder einmal wissen, wie sie zu retten sei. Was man beim Papst eine Enzyklika nennen würde, heißt beim Dalai Lama "Appell": Dem deutschen Journalisten und langjährigen Vertrauten Franz Alt erklärte er für das Buch "Der Appell des Dalai Lama an die Welt" (für KURIER-Leser zum Gratis-Download, siehe unten), wie er den Satz "Ethik ist wichtiger als Religion" gemeint hat.

KURIER: Ist dieser Satz wirklich so provokant? Der Buddhismus sieht sich ja mehr als ethische Philosophie denn als Religion.

Franz Alt: Natürlich fällt es dem Dalai Lama leichter als dem Papst zu sagen, Ethik sei wichtiger als Religion. Der Punkt ist, dass Religion für den Dalai Lama zum Teil künstlich gemacht ist, Ethik verbindet uns alle. Kein Mensch wird religiös geboren, aber alle als ethische Wesen. Weil jeder eine Mutter hat, die ihn liebt. Daher lieben alle Menschen. Wir brauchen eine säkulare Ethik jenseits der Religionen. In Schulen sei Ethik-Unterricht wichtiger als Religionsunterricht, weil zum Überleben der Menschheit das Hervorheben des Gemeinsamen wichtiger ist als des Trennenden.

Im Buch heißt es, jeder Mensch würde ethische Werte wie Achtsamkeit und Mitgefühl in sich tragen. In Zeiten grausamen Terrors fragt man sich da, ob der Dalai Lama nicht fernsieht?

Was er da sagt, ist ein Gegenprogramm zum IS (Terrorgruppe Islamischer Staat, Anm.): Wer seine ethische Basis für Kompromisse ernst nimmt, tötet nicht Andersgläubige. Er meint aber auch die mangelnde Kompromissfähigkeit in der Politik. Eine Lösung für Griechenland etwa kann nicht an Geld scheitern. Wenn diese Ethik in der Politik Schule machen würde, wären wir ein Stück weiter.

"Durch intensives Meditieren werden wir feststellen, dass Feinde unsere besten Freunde werden können. In einem gewissen Sinne sind sie unsere besten Lehrer." Würden Sie dieses Zitat der Familie eines IS-Opfers ins Gesicht sagen?

Zum 80er wünscht sich der Dalai Lama weniger Religion
epa04822340 Tibetan spiritual leader, the Dalai Lama addresses an audience in the Stone Circle on the fifth day of Glastonbury Festival of Contemporary Performing Arts 2015, held at Worthy Farm, near Pilton, Somerset, Britain, 28 June 2015. The outdoor festival runs from 24 to 29 June. EPA/HANNAH MCKAY
Der Dalai Lama ist einer der ältesten Flüchtlinge der Welt und lebt seit 56 Jahren im Exil. Was die Chinesen in Tibet angestellt haben, ist ebenso schwerwiegend. Auch dazu sagt er: Keine Gegengewalt. Dem sind nicht alle Tibeter gefolgt, es splitten sich ja Gruppen von ihm ab. Und er betont: Wenn die Mehrheit der Tibeter den Weg der Gewalt richtig fände, würde er auch als Dalai Lama zurücktreten. Als politischer Führer tat er das 2011, was unter politischen Führern auch nicht alltäglich ist.

Sie preisen das Buch mit den Worten an: "Hier ist seine neue Botschaft, welche die Welt verändern kann." Dann liest man Zitate wie "Der Unterschied zwischen Ethik und Religion ähnelt dem Unterschied zwischen Wasser und Tee." Solche Erkenntnisse ändern die Welt?

Er formuliert Gegenkonzepte. Wenn wir die Welt ändern wollen, müssen wir bei uns anfangen. Er sagt auch: "Durch Nachdenken können wir lernen, dass Geduld das wichtigste Gegenmittel gegen die Wut ist. Zorn über andere hilft wenig, stattdessen sollten wir zusehen, dass wir uns selbst ändern."

Ein Zitat noch: "Das Leben ist kurz. Wenn wir uns den negativen Emotionen überlassen, vergeuden wir es." Fanden Sie solche Sätze nie banal?

Als ich ihn 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl traf, kam mir auch einiges banal vor, das er sagte. Heute nicht mehr. Prediger wiederholen sich, so wie alle Experten bei ihren Themen. Beim Dalai Lama finde ich im Gegenteil, dass seine Theorien immer neu klingen. Weil er Dinge, die ihm wichtig sind, immer in einen aktuellen Kontext stellt. Die Werte sind alt, aber er spricht nicht von gestern, sondern von heute.

Eine Bezeichnung für ihn ist ja auch "Kundün" (Gegenwart). Sie kennen den Dalai Lama seit 30 Jahren, nennen ihn "Freund". Hat er sich verändert?

Zum 80er wünscht sich der Dalai Lama weniger Religion
Dr. Franz Alt, Dalai Lama, honorarfrei einmalig für Bericht über Buch "Der Appell des Dalai Lama an die Welt", Juli 2015
Anfang der 1980er-Jahre war er noch nicht so konziliant, aber irgendwann sagte er sich: Die Chinesen wollen gar keine Unabhängigkeit für Tibet, wir die vollständige, also schlug er den "Dritten Weg" ein: einen Kompromiss suchen. Über die Jahre sprach er immer von Toleranz, die Gewaltfreiheit der Bergpredigt ist ihm wichtig, die Feindesliebe von Jesus auch. Aber heuer im Jänner erreichte das einen neuen Höhepunkt, als er nach den Anschlägen in Paris sagte: "Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten."

Solche Sager beeindrucken natürlich. Wie erklären Sie die Faszination für den Dalai Lama? Ist er ein Marketingprodukt?

Das hängt mit unserer Vorstellung von Marketing zusammen. Wir Journalisten sind bei einer Führungsfigur, die ohne Inszenierung auskommt, natürlich kritisch. Die sind ja oft verschrobene Leute mit Marketingsprache. Er braucht das nicht, er ist authentisch. Dazu sein berühmtes Lachen, mit dem jegliche Schwere sofort weg ist. Der Dalai Lama ist ein Mensch, der den Menschen vertraut, deswegen vertrauen sie ihm. Er ist eine Antipersönlichkeit.

Wie nimmt er selbst seine Rolle in der westlichen Welt wahr? Stört ihn, dass viele Anhänger Spiritualität eher als Hobby denn als täglichen Auftrag leben?

Er nimmt das locker. Nach einem Vortrags schrie einmal jemand: "Heiligkeit, können Sie uns noch einen Rat fürs Leben geben?" Er hielt inne und sagte: "Oh nein, da fällt mir jetzt nichts ein."

Der 13. Dalai Lama war bereits zwei Jahre tot, als Lhamo Dhondrub am 6. Juli 1935 im Nordosten Tibets zur Welt kam. Und es dauerte noch einmal so lange, bis eine Delegation von vier Mönchen den Bauernbuben als Reinkarnation der wichtigen religiösen Figur der Tibeter entdeckte. Das Kind soll Gegenstände, die seinem Vorgänger gehört hatten, wiedererkannt haben. Die Tibeter glauben, dass der Buddha des Mitgefühls, Tschenresi, auf den Eingang ins Nirwana verzichtet hat und so lange wiedergeboren wird, bis alle Menschen erlöst sind. Mit fünf Jahren wurde Dhondrub zum geistigen Führer ernannt und erhielt seinen Mönchsnamen Tenzin Gyatso. Erzogen und unterrichtet wurde er in einem Kloster in Lhasa. Dort traf er auf den Österreicher Heinrich Harrer, der sich von 1946 bis 1950 in Lhasa aufhielt.

Politische Macht

In diesem Jahr wurde „Seine Heiligkeit“ auch politischer Führer, musste allerdings gleich fliehen, weil China nach langem Konflikt in Tibet einmarschierte. Der Dalai Lama suchte das Gespräch mit den Besatzern. Dazu reiste er auch zu Friedensgesprächen mit Mao Tsetung. Vergeblich: Der Konflikt verschärfte sich sogar und 90.000 Tibeter kamen bei Aufständen ums Leben. 1959 sah sich der religiöse Führer gezwungen, endgültig und dauerhaft nach Indien zu fliehen.
Ein entscheidendes Motto war für den Dalai Lama immer die Gewaltlosigkeit, seit 1986 (Tschernobyl) besonders auch gegenüber der Umwelt. Diese Einstellung brachte ihm besonders im Westen große Popularität. Immer wieder nimmt er zu Ereignissen Stellung, für sein Bemühen um den Dialog wurde er 1989 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 2011 legte er die Funktion des politischen Führers zurück und etablierte eine Demokratie für Tibeter.

Der deutsche Journalist, Reporter und Moderator (ARD) Franz Alt, geb. 1938, interviewte den Dalai Lama in 30 Jahren 20 Mal für Fernsehen und Zeitungen. Sein aktuelles, langes Gespräch erschien nun im Verlag Benevento („Der Appell des Dalai Lama an die Welt – Ethik ist wichtiger als Religionen“) auf Englisch, Arabisch, Chinesisch, Französisch, Russisch, Spanisch, Portugiesisch und Deutsch. Die E-Books gratis, als Hardcover um 4,99 € auf www.beneventobooks.com. Ebenfalls zum Geburtstag erschienen: „Die Macht des Guten – Der Dalai Lama und seine Visionen für die Menschheit“ von Daniel Goleman, Verlag O.W. Barth, 19,99 €.

Exklusiv:

Unter den folgenden Links sind alle Versionen in acht Sprachen als Pdf abrufbar:

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