Binge Eating: "Mein Name ist Lisbeth und ich bin esssüchtig"
Stellen Sie sich vor, Sie sind süchtig nach Tabletten. Mühsam versuchen Sie, Ihre Abhängigkeit zu überwinden. Doch gleichzeitig brauchen Sie die Tabletten, um zu überleben.
So geht es Esssüchtigen. Der Stoff ihrer Wahl ist nicht Alkohol, Heroin, nicht Zigaretten oder Opioide.
Beim Essen verlieren sie die Kontrolle, essen hastig alles durcheinander, Kuchen, Pommes, ungekochte Nudeln, rohen Brotteig.
Die Anonymen Esssüchtigen
Die Mitglieder von den Anonymen Esssüchtigen (Overeaters Anonymous) kennen das. Sie folgen dem 12 Schritte Programm nach amerikanischem Vorbild, das ursprünglich für Alkoholkranke entwickelt wurde.
Eine Gruppe trifft sich jede Woche in einem kleinen Zimmer in der evangelischen Pfarre in St. Pölten. Zu den Treffen selbst ist die Presse nicht eingeladen, die Teilnehmerinnen sollen anonym bleiben dürfen. Zwei Stunden bevor das offizielle Meeting beginnt, sitzen drei von ihnen schon bei Tee in der Pfarre. Vor dem Fenster rauschen die Autos vorbei, die Sonne geht langsam unter.
"Ich musste weinen, weil ich mich so Zuhause gefühlt habe"
"Ich erinnere mich noch ganz genau an das erste Treffen", sagt die 60-jährige Lisbeth. Sie trägt eine Kurzhaarfrisur und Perlstecker, um den Hals hat sie ein Tuch mit Paisleymuster gewickelt. 1992 war sie zum ersten Mal bei den Anonymen Esssüchtigen. "Ich konnte nicht arbeiten, weil ich ständig nur daran dachte, was ich wo und wie essen könnte. Beim Meeting musste ich dann viel weinen, weil ich mich so Zuhause gefühlt habe." Inzwischen sind 27 Jahre vergangen.
Häufigste Essstörung: Binge Eating
Das anfallartige Essen wird in der Psychologie "Binge Eating" genannt und ist in westlichen industrialisierten Ländern wie Österreich die häufigste Essstörung. Der Begriff tauchte zum ersten Mal 1959 in der wissenschaftlichen Literatur auf. Bislang wird die Binge Eating Disorder (BED) nicht als eigenständige Störung geführt, sondern wird im Sammelbecken der nicht näher bezeichneten Essstörungen aufgefangen. In der neuen Ausgabe der wichtigsten Klassifizierung (ICD) soll sich das bis 2022 ändern.
Oft vergehen Jahrzehnte, bis die Betroffenen sich und ihrem Umfeld eingestehen, dass sie krank sind. "Das Verständnis, dass die Binge Eating Disorder eine ernsthafte Erkrankung ist, fehlt oft", sagt Ursula Bailer, Leiterin der Spezialambulanz für Essstörungen an der Wiener MedUni. Bei Magersucht und Bulimie weicht das Essverhalten offensichtlich von der Norm ab. Binge Eating wird hingegen abgetan, die Betroffenen sollten einfach weniger essen und sich zusammenreißen.
Sind also alle Betroffenen von Binge Eating dick und sind alle Dicken essgestört? "Das wird oft so dargestellt", sagt Medizinerin Bailer, "stimmt aber nicht. Die Ursachen für Übergewicht sind vielfältig. Zwar führt Binge Eating in den meisten Fällen langfristig zu Übergewicht, aber wichtiger als das Gewicht sind Kriterien wie der Kontrollverlust."
Essen als Sucht
Dabei hat Binge Eating, genau wie Bulimie, ähnliche Züge wie die klassische Alkoholsucht. "Ob Essstörungen Süchte sind, ist zwar umstritten, Parallelen gibt es aber auf alle Fälle", sagt Bailer. Die Magersucht (Anorexie) sei eher verwandt mit Angst- und Zwangserkrankungen. Genaue Zahlen gibt es für Österreich zwar nicht, analog zu ähnlichen Ländern geht man aber davon aus, dass 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung eine Binge Eating Disorder haben. Etwa 65 Prozent davon sind Frauen.
Schuld am Suchtpotenzial ist die Biologie. Bestimmte Nahrungsmittel wie Fett, Salz und Zucker haben einen besonders belohnenden Effekt auf unser Gehirn, sagt Bailer. Damit ein Mensch eine Esssucht entwickelt, müssen aber noch viele andere Faktoren zusammenkommen.
Zwölf Schritte zur Genesung
Lisbeth ist trockene Alkoholikerin. Als sie vom Trinken loskam, verlagerte sich die Sucht plötzlich aufs Essen. "Für mich war klar, den Alkohol muss ich weglassen. Beim Essen ist es schwieriger, da muss ich mich jeden Tag mehrmals damit auseinandersetzen." Zur Überwindung ihrer Esssucht geben ihr die zwölf Schritte Halt.
"Wir gaben zu, dass wir dem Essen gegenüber machtlos waren und unser Leben nicht mehr meistern konnten."
Das ist der erste der zwölf Schritte. Wer amerikanische Serien kennt, ist wahrscheinlich mit dem Konzept vertraut. Die zwei alkoholkranken Männer William Griffith Wilson und Robert Holbrook Smith hielten es in den 30er Jahren zum ersten Mal fest, daraus entwickelten sich die Selbsthilfegruppen. Mittlerweile gibt es Dutzende Ableger, die sich auf das Zwölf-Schritte-Programm stützen. Jede Gruppe ist selbstständig, gestaltet die Meetings aber nach der Tradition. So beginnen auch die Treffen der Anonymen Esssüchtigen mit dem Bekenntnis: "Mein Name ist Lisbeth und ich bin esssüchtig."
Die anonymen Selbsthilfegruppen sind in den USA weit verbreitet und gelten für viele als erste Anlaufstelle oder sogar als einzige Möglichkeit auf Besserung. Der bekannteste Kritiker ist Lance Dodes, ehemaliger Professor an der prestigeträchtigen Universität Harvard. In seinem Buch "The Sober Truth" (die nüchterne Wahrheit) untersuchte er die Wissenschaft hinter den zwölf Schritten und kam zu dem Schluss, dass die Erfolgsrate bei fünf bis zehn Prozent liege und damit nicht höher als bei Personen, die alleine versuchen, trocken zu werden. Die Zahl bezieht sich allerdings nur auf Alkoholkranke, die langfristig abstinent bleiben. Untersuchungen zu Esssüchtigen in dem Programm gibt es nicht.
Die drei Frauen von den Anonymen Esssüchtigen sind jedenfalls sehr froh darüber, Menschen gefunden zu haben, die sie verstehen. Gegen die Sucht, da sind sie sich einig, ist die Selbsthilfegruppe am hilfreichsten gewesen. "Ich weiß, ich kann alle Verrücktheiten sagen und die anderen kennen das", sagt eine.
Binge Eating und Übergewicht müssen nicht gemeinsam auftreten
"Alles was hilft, ist gut", sagt Olivia Wollinger, 46, in ihrer Praxis bei der Roßauer Lände in Wien. Sie ist Expertin für emotionales Essen, gibt Workshops und war selbst esssüchtig. Heute geht es ihr gut. Davor lag aber ein langer Weg. In den 90er Jahren entwickelte sie Binge Eating. In ihrem Selbsthilfebuch beschreibt sie, wie belastend die Essstörung sein kann: "Es gab Zeiten, da konnte ich nicht einmal Grundnahrungsmittel wie Haferflocken, Reis oder Nudeln zu Hause aufbewahren, ohne den ständigen Drang zu verspüren, sie aufessen zu müssen."
So schlimm die Esssucht auch sei, sie erfülle eine Funktion, sagt Wollinger. "Sie betäubt, wenn alles zu viel wird. Gleichzeitig helfe sie, allerdings auf eine destruktive Art und Weise, sich wieder zu spüren, weil man nach einem Anfall unendlich vollgestopft ist. Der Kontrollverlust kann kurzfristig befreiend wirken. Doch danach kommt die Katerstimmung."
Krapfen am Klo
Wollinger nennt dieses Gefühl Essdruck. Es macht sich bemerkbar, wenn sie einen Müsliriegel im Rucksack hat und stundenlang nur daran denken kann, ihn zu essen. Oder wenn sie auf der Toilette eines griechischen Restaurants einen Krapfen isst. Heimlichtuerei, Scham, körperliche Schmerzen von dem vielen Essen – all dies sind Dinge, die Betroffene begleiten.
"Einsamkeit ist ein riesen Thema. Deswegen ist es wichtig, frühzeitig Therapie zu suchen und jemandem gegenüberzusitzen, der einem das Gefühl gibt, kein Monster zu sein", sagt Wollinger und betont, dass die Esssucht nur ein Symptom eines tieferliegenden Problems ist.
Den letzten Essanfall hatte sie im Jahr 2000. Eine große Errungenschaft ließ noch zehn Jahre auf sich warten: "Ich definierte mich lang über die Essstörung. Am Anfang war ich Olivia mit Esssucht, später Olivia ohne Esssucht. Es dauerte dann noch einige Zeit, bis ich meine Identität fand und sagen konnte: Jetzt bin ich einfach Olivia."
Hier finden Sie Hilfe:
Essstörungshotline (kostenfrei): 0800 20 11 20 oder hilfe@essstoerungshotline.at
Overeaters Anonymous: http://overeatersanonymous.at/meetings
Buchtipp: Esssanfälle Adé von Olivia Wollinger, Ullstein Verlag, 15,50 EUR
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