Das Telefonbuch der Tierarten

epa01462676 Two juvenile male lions, probably brothers, rub heads in greeting in the Masai Mara game reserve in Kenya, 22 August 2008. In August each year the ungainly wildebeest migrate in a vast ensemble north from the Serengeti plains in to Kenya's Masai Mara in search of fresh pasture, and return to the south around October. The Great Migration is one of the most impressive natural events worldwide, involving an immensity of herbibores: some 1,300,000 Wildebeest, 360,000 Thomson's Gazelle, and 191,000 Zebra. These numerous migrants are followed along their annual, circular route by a block of hungry predators, most notably lions and hyena. EPA/STEPHEN MORRISON
Bis Ende des Jahrhunderts könnte jedes Lebewesen auf der Erde einen Namen haben.

Das Jahr der Biodiversität ist auch schon wieder drei Jahre her. Der traurige Befund danach: Wir wissen nicht, wie viele verschiedene Lebewesen die Erde bevölkern. Weder bei den Pflanzen, Tieren und Pilzen, und schon gar nicht im Reich der Mikroorganismen. Nun lässt eine im Fachblatt Science veröffentlichte Studie aufhorchen. Ein Forscherteam um Mark Costello von der Universität in Auckland hält ein Abschließen der Arten-Inventur bis 2100 für möglich, also innerhalb weniger Forschergenerationen.

Eine komplette Liste aller Lebewesen, eine Art „Telefonbuch“, wie es der Zoologe Konrad Fiedler vom Department für die Biodiversität der Tiere nennt, das hat es seit den Tagen des Carl Linné Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Der schwedische Naturforscher kam in seinem Werk Systema Naturae auf einen Bestand von 7700 Pflanzen- und 6200 Tierarten. Heute schwanken die besten Schätzungen zwischen zwei und acht Millionen.

Zahlenspiele

Man muss die Science-Studie allerdings genau lesen, um zu verstehen, wie die Forscher zu ihrer optimistische Einschätzung kommen. Die Biologen gehen von einem Kenntnisstand von 1,5 Millionen Arten aus. „Das stimmt in etwa auch“, sagt Fiedler. Gäbe es weltweit nur 3,5 Millionen Arten, wäre man tatsächlich am Ende des Jahrhunderts mit dem Entdecken und Benennen fertig. Sind es aber in Wahrheit fünf Millionen Arten, dann werde es bis ca. 2300 dauern. Gäbe es auf der Erde aber zehn Millionen Arten, wovon viele Forscher überzeugt sind, dann bräuchte es noch länger – bis 2500 möglicherweise – bei gleichbleibendem Tempo von ca. 18.000 neu beschriebenen Arten pro Jahr.

Und was glaubt Professor Fiedler, der im Regenwald von Ecuador Schmetterlinge aufspürt? Er ist skeptisch, dass die Erforschung der Welt bis Ende des Jahrhunderts erledigt sein wird, „Das hieße ja, dass wir die Hälfte der Biodiversität bereits kennen, das ist unrealistisch. In meiner Studienzeit in den 1980er-Jahren haben wir gelernt, dass es ungefähr 4000 Amphibien-Arten (Frösche, Molche, etc., Anm.) gibt, heute wissen wir, es sind 6200. Mit der Entwicklung neuer Methoden aus der Molekularbiologie und der Bioakustik (Tierstimmenforschung, Anm.) stieg die Zahl der Entdeckungen.“

Laienspiele

Wie schwer es ist, gute Schätzungen über Artenzahlen abzugeben, kann man daran ablesen, dass Forscher vor 30 Jahren noch von bis zu 100 Millionen Lebewesen ausgegangen sind. Zur Ehrenrettung der Schätzer: Die Tier- und Pflanzenfamilien sind unterschiedlich gut erforscht, Vorhersagen schwierig. Vor allem bei Insekten und Spinnen sind die Wissenslücken groß. Bei Vögeln und Pflanzen ist schon ein Großteil bekannt. In der Ornithologie und der Botanik sind sehr viele Amateur-Forscher unterwegs, die ihre Wochenenden in der Natur verbringen. Bei Vögeln ist die Organisation Birdlife führend. Und unter den drei Haupt-Autoren der österreichischen Exkursionsflora befindet sich ein Profi-Botaniker.

In manchen Lebensräumen, etwa in Mooren und Salzsteppen Mitteleuropas oder in der afrikanischen Serengeti, läuft den Forschern die Zeit davon. Die Landschaften werden entwässert, verbaut oder anders zerstört, sogar prominente Tiere wie der afrikanische Löwe sind vom Aussterben bedroht, warnte der WWF vor Kurzem.

Es kann sich trotzdem ausgehen bis 2100, aber nur „wenn alle Mittel, die jetzt in die Suche nach extraterrestrischen Lebensformen gepumpt werden, in die Erforschung der Artenvielfalt auf der Erde fließen“, sagt Fiedler. Man kann die Studie der Neuseeländer aber auch als positiven Aufruf verstehen, den Kampf für die Erhaltung der Natur nicht aufzugeben. Fiedler: „Wenn man nur mit Katastrophenszenarien operiert, dann kann man gar nicht mobilisieren.“

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