Advent-Essay: Vom falschen Singen am Heiligen Abend

Advent-Essay: Vom falschen Singen am Heiligen Abend
Die musikalischen Weihnachtserlebnisse mit Tante Luise. Von Gabriele Kuhn.

Obi lacht Es ist schon ein schöner Moment, wenn die Familie vor dem Christbaum steht und singt. Wo es doch  heißt: Es schwinden jedes Kummers Falten. So lang des Liedes Zauber walten. Das ist von Friedrich Schiller, hätte aber auch von der Tante Luise sein können. Schiller und Luise eint zweierlei: Beide sind längst verblichen, aber auf ihre Weise immer noch da.

Die  Luise, vor allem am Heiligen Abend. An dem sie Jahr für Jahr forsch forderte: G’sungen wird! Um dann ihre Lieblingsweise anzustimmen: Süßer die Glocken nie klingen. Sowie, naturgemäß, Stille Nacht. Die Tante sang  laut und durchsetzungsstark. Man muss sie sich als fleischgewordenes Crescendo vorstellen. Ihr  Schlaf in himmlischer Ruh gipfelte stets in einem  fulminanten Ruhuuuu  und ließ die Mitsinger  verstummen. Dann glänzten ihre dicken  Wangen und ihr Blick offenbarte tiefe Beseeltheit von sich selbst.

Sobald der letzte Ton verstummt war, folgten Rügen. Falsch würden wir  singen, den Text nicht können, bei der zweiten Stimme versagen. Dann musste ich O du fröhliche auf dem Akkordeon spielen, dazu schlug Tante Luise mit einer Fleischgabel auf einen Dessertteller.

Advent-Essay: Vom falschen Singen am Heiligen Abend

Da ich nie übte, war es, was es war: nicht zum Anhören. Ein zähes Ziehen und Quetschen von Note zu Note, untermalt von Luises forschem Fleischgabelschlag und dem Geräusch eines Korkens, den der Onkel Willi derweil  aus dem Doppler mit Hauswein zog. In solchen Fällen sagt man gerne: Wir haben ja sonst nix gehabt. Außer dem Mayonnaisesalat zum gebackenen Kabeljau, den Gesang der Sängerknaben, fünf Minuten vor Punkt im Radio und die Windringerln in Blau und Rosa, höchstpersönlich von der Luise-Tant’ mit Baumhakerln versehen.

Kummer und Harn

Besonders interessant ist ja, dass die Luise selbst nicht firm bei den Liedtexten war. Bei Leise rieselt der Schnee intonierte sie stets:  Still schweigt Kummer und Harn.  Bei Stille Nacht sang sie: Stille Nacht. Stille Nacht. Gottes Sohn, obi lacht. Natürlich traute sich niemand, auf die Fehler aufmerksam zu machen, im Gegenteil: Wir übernahmen sie und sangen wie selbstverständlich von Harn und Obi. 

Und dann kam dieser Heilige Abend, an dem ich die Tante Luise fragen wollte, warum wir  immer davon singen, dass der O Tannenbaum grüne Blätter hat, wo es doch Nadeln wären. Aber die Tante Luise kam  diese Weihnachten nicht, sie war schwer gestürzt und lag  im Spital. Als ich sie besuchte, fragte ich die Tannenbaum-Frage,  sie antwortete müde: Warum wir das so singen? Kinderl, Kinderl – weil’s immer so war.  Ja,  das ist, was von der Tante Luise geblieben ist.  Daher werden wir auch heuer von Harn und Obi singen – und dabei recht gerührt sein. gabriele.kuhn

Kommentare