Zweite Chance mit 60
Der da drüben – der eitle Franzose Beigbeder links – wird das nicht gern hören:
"Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne ... Fahrrad."
Rebecca gefällt der Spruch ebenfalls nicht. Ihr ist er zu komisch. Es war aber gar nicht komisch, als – 20 Jahre ist das jetzt her – ihr Ehemann die Scheidung wollte, um seine Freundin zu heiraten. Die Freundin war bereits schwanger.
Rebecca zog den Sohn allein auf. Dazwischen fotografierte sie und wurde mit Bildern von abgerissenen Resten zweier Baguettestangen ("Stillleben mit Brotkrümeln") und leeren Flaschen berühmt – ja , sogar zur Ikone des Feminismus wurde sie.
Und was ist sie jetzt?
60.
Happy End
"Ein Jahr auf dem Land" ist die Geschichte einer zweiten Chance. Es wird sehr warm beim Lesen. Fast zu warm; und die Menschen um Rebecca, die sind fast zu lieb.
Ein solcher Roman tut allerdings sehr gut, ab und zu.
Autorin Anna Quindlen ist Kolumnistin der New York Times – und als solche Pulitzer-Preisträgerin; und sie sagt selbst: Ihr siebenter Roman ist der erste mit Happy End. Sie hat sich ja selbst darüber gewundert.
Rebecca ist also 60 und nicht mehr so berühmt. Das Geld geht aus. Die Plätze für ihre 90-jährigen Eltern im Seniorenheim sind teuer.
Deshalb vermietet Rebecca die luxuriöse New Yorker Wohnung und mietet ein billiges Holzhaus irgendwo im Wald. Der Waschbär unterm Dach ist unangenehm. Die Weißkopfadler am Himmel sind wunderschön.
Überraschend, wie ähnlich Quindlens Liebesgeschichte jener ist, die KURIER-Kolumnistin Doris Knecht eben unter dem Titel "Wald" veröffentlicht hat. Wie berichtet, zieht sich eine in Konkurs gegangene Modedesignerin notgedrungen aufs Land zurück. Der Unterschied: Sie ist gut zehn Jahre jünger als Rebecca.
Beide Frauen stellen sich um und erfinden sich neu, das geht heutzutage auch im Pensionsalter (na sicher! bzw. theoretisch).
Die 60-Jährige fotografiert wieder erfolgreich, sie isst fette Käsetoasts statt Canapés und erobert ungewollt das Herz eines Dachdeckers. Er ist 44. Der da drüben – der eitle Franzose Beigbeder links – wird das nicht glauben wollen: Es sind ältere Männer, die jüngere Frauen "nehmen", so hat das zu sein.
"Ein Jahr auf dem Land" ist 1.) sympathisch und 2.) sympathisch und nebenbei ein Roman über Fotografie; über die Schönheit, eine Steinmauer zu fotografieren oder die Haut von Kindern.
Kritik wird in diesem Zusammenhang an männlichen Künstlerkollegen geübt: Die reden immer so, als würde jedes ihrer Werke allein der Genialität zu verdanken sein.
Rebecca aber war am besten, wenn ihre Arbeiten zufällig und unmittelbar waren.
Wenn sie ihrem Sohn ein Brot schnitt und das Schneidbrett fotografierte.
Die Lust, weniger zu lesen und es ihr nachzumachen, ist groß.
KURIER-Wertung:
INFO: Anna Quindlen: „Ein Jahr auf dem Land“ Übersetzt von Tanja Handels. DVA. 320 Seiten. 20,60 Euro.
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