Ludwig van Beethoven - missbraucht von allen Regimes
KURIER: Sie werden 2020 in Wien einen Vortrag über die Beethoven-Rezeption halten. Wie kamen Sie als Professor für Zeitgeschichte denn auf dieses Thema?
Oliver Rathkolb: Ich arbeite schon länger, eigentlich seit meiner Dissertation 1980, zu Fragen der Kultur- und Musikpolitik. Was mir immer wieder aufgefallen ist: Die öffentliche, politische, kommunizierte Wahrnehmung von prominenten Künstlerinnen und Künstlern unterscheidet sich sehr vom aktuellen Bild, das die jeweilige Fachdisziplin, die Theater- und die Musikwissenschaft, zeichnet. Bei Ludwig van Beethoven ändert sich die Wahrnehmung nicht nur in Österreich mit den unterschiedlichen Regimen, sie ändert sich auch international. Beethoven hatte keine klare Punze: Er hat beispielsweise nicht auf den Barrikaden gegen den Adel gekämpft, aber er hat sich mit den Idealen der Aufklärung beschäftigt. Ich werde daher die ideologischen Vereinnahmungen von Beethoven analysieren – und den Bogen vom 19. Jahrhundert über die NS-Zeit bis in den Kalten Krieg nach 1945 spannen. Die Musik selbst wird dabei meistens von der Politik ignoriert, aber in die Biografie wird alles Mögliche hineinprojiziert.
Wie war denn das ursprüngliche Bild?
Ich beginne mit der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen, die der später vom NS-Regime verfolgte Guido Adler 1892 in Wien mitorganisiert hat. Sie war einer der letzten Versuche in der Monarchie, Komponisten anderer Nationalitäten, zum Beispiel aus Böhmen, zu präsentieren. Aber das Primat der deutschen Kultur legte sich über alles drüber. Und Beethoven war damals eine Art Brücke von Österreich in den deutschen Kulturraum. Nach dem Ersten Weltkrieg kommt es zu Ausdifferenzierungen: Die Sozialdemokraten, vor allem David Josef Bach und die Arbeitermusikbewegung, entdeckten in Beethoven – genauso wie die sowjetischen Kulturfunktionäre – den Revolutionär. Schon 1920 feierten sie groß den 150. Geburtstag. Für das Dollfuß-Schuschnigg-Regime ab 1933 war Beethoven „unser“ Kulturdeutscher. Engelbert Dollfuß und vor allem Kurt Schuschnigg definierten sich ganz stark als die besseren „Kulturdeutschen“ – gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichtet.
Eben weil Beethoven, 1770 in Bonn geboren, ab 1792 in Wien gelebt und komponiert hat?
Genau. Adolf Hitler hingegen stellte Beethoven mehrfach in die Tradition der deutschen Nationalkultur. Aber die Nationalsozialisten waren nicht ganz glücklich mit ihm: Die Aufführungsstatistiken zeigen, dass Beethoven vor 1933 in Deutschland wichtiger war als nachher. Weit mehr in die Auslage gestellt wurde – natürlich neben Wagner – Mozart. Die Mozartwoche 1941 wurde als europäisches Großereignis gefeiert – in all den besetzten Gebieten . Damals, zwei Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, war Hitler am Zenit seiner Macht. Überall, wo die deutsche Wehrmacht stand, feierte man den deutschen Mozart. Das Auswärtige Amt und das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda investierten ein Vermögen in diese Veranstaltungen – auch in Italien. Ziel war es, durch deutsche Kulturhegemonie das nationalsozialistische Europa zu formen.
Und wie änderte sich das Bild von Beethoven in der Sowjetunion? Blieb er der Revolutionär?
Zunächst vertrat man in Moskau die Meinung, dass nur die Sowjetunion dem revolutionären Beethoven gerecht werde. Nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts 1939, des Hitler-Stalin-Pakts, verlor er an Bedeutung. Und dann trat die Sowjetunion in den Krieg gegen Deutschland ein.
Wie ging es nach 1945 weiter?
Es kam zur Teilung Deutschlands. Beethoven wurde ein extrem wichtiger Komponist für die DDR. Sie entdeckte ihn als Titanen und nahm für sich in Anspruch, die wahre Beethoven-Pflege zu betreiben. Alles, was der Westen und die BRD machen, sei dekadent; die dortige Musikpflege hätte nichts mit dem klassischen Beethoven zu tun. Beethoven wurde also für eine größere kulturelle Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Westen vereinnahmt. Eines aber war Beethoven sicher nicht: ein Komponist der Arbeiterklasse.
Warum dann gerade Beethoven?
Die Nazis hatten die Partitur der 9. Symphonie in fünf Faszikel aufgeteilt und diese an zwei verschiedenen Orten versteckt, um sie vor dem Bombenkrieg zu schützen. Drei Faszikel wurden schließlich in Polen beschlagnahmt – und 1977der DDR geschenkt. Die anderen zwei Faszikel gelangten über Umwege in den Preußischen Kulturbesitz – und damit nach West-Berlin. Nach der totalitären Katastrophe des Nationalsozialismus fanden die Nachkriegsregimes daher zu keinem gemeinsamen Weg zu Beethoven. West- wie Ostdeutschland hat versucht, ihn für das jeweilige Gesellschaftssystem zu akquirieren. Die beiden Teile der Partitur wurden erst nach der Deutschen Einigung fusioniert.
Österreich hingegen setzte nach dem Zweiten Weltkrieg voll auf Mozart?
Nicht nur. In den kulturpolitischen Reden zum Beispiel von Heinrich Drimmel, Unterrichtsminister von 1954 bis 1964, spielte Beethoven in derselben Liga wie Mozart, die Sängerknaben und die Wiener Staatsoper. Es erfolgte eine starke Austrifizierung von Beethoven, über seine deutschen Wurzeln ist man einfach hinweggegangen. Er war Österreicher, zufällig in Bonn geboren; außerdem stammten seine väterlichen Vorfahren aus den Österreichischen Niederlanden. Und im Gegenzug wurde Hitler zum Deutschen gemacht.
Trifft die Vereinnahmung nicht jeden großen Künstler?
Natürlich. Bei der Konstruktion einer österreichischen Identität zum Beispiel stützte sich die Kulturpolitik auf viele Genies und Heroen – und man entledigte sich der Kontexte.
So unterschiedlich man Beethoven instrumentalisierte: Die Befreiungsoper „Fidelio“ wurde von allen eingesetzt …
Ja, das revolutionäre Element von „Fidelio“ wurde für jedes Regime usurpiert. Im Frühjahr 1938, zwei Wochen nach dem Anschlussgesetz, wurde „Fidelio“ als Siegesoper beim Besuch von Hermann Göring in der Staatsoper gespielt: Jetzt sind wir befreit vom Joch der „Systemzeit“, wie die Nazis die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur nannten. 1945, bei der Eröffnung der Staatsopernsaison im Theater an der Wien, galt „Fidelio“ als Zeichen für die Befreiung von den Nationalsozialisten – und 1955 bei der Wiedereröffnung der wiedererrichteten Staatsoper am Ring als Zeichen für die Befreiung von den Alliierten.
Ist es nicht eigenartig, dass die 9. Symphonie als Europa-Hymne verwendet wird? Sie stammt von einem deutschen Komponisten und von einem deutschen Dichter, eben Friedrich Schiller.
Mich interessiert tatsächlich die Frage, wie im Europarat der Entscheidungsprozess gelaufen ist. Schon 1955 hat Richard Coudenhove-Kalergi Beethoven vorgeschlagen, doch lange gab es andere Alternativen, bis zur letztlich überraschenden Entscheidung 1971.Was ja vor dem Hintergrund des Brexit noch hinzu kommt: Die 9. Symphonie war einst ein Auftragswerk der Philharmonic Society in London! Also: Wir verdanken den Briten unsere Europa-Hymne. Nicht ganz ernst gemeint, aber weil der britische Premierminister Boris Johnson zu allem imstande ist: Hoffen wir, dass es keine Restitutionsforderung gibt!
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