Folgenreich: Was der Serienboom alles ausgelöst hat
Das vielleicht Beste am Serienboom ist, dass er so viele Vorurteile widerlegt. Dass Fernsehen latent dumm ist, etwa, und an der Oberfläche bleiben muss. Und dass in der angeblich schnelllebigen Smartphone- und Social-Media-Zeit die Aufmerksamkeitsspanne der Jungen gegen Null herabgesenkt wird. Das genaue Gegenteil ist offenbar der Fall: Ausgerechnet in dieser Kurzlebigkeit boomen die beiden – neben dem Buch – zeitintensivsten Kulturprodukte überhaupt: Computergames (wo man viele, viele Stunden braucht, um durch die Erzählungen zu kommen) und Fernsehserien. Während Erstere immer noch nicht als vollwertige Kulturprodukte angesehen werden (was nebstbei völliger Schwachsinn ist), haben die TV-Serien eine kleine Revolution vollbracht: Sie wurden, unterstützt durch technologischen Wandel und dadurch ermöglichte Veränderungen im Konsumverhalten, zur prägenden Popkultur unserer Zeit.
Referenzpunkt
Serien wie „Game Of Thrones“, „ Breaking Bad“ und „Better Call Saul“, „ “ und viele andere haben einen gewaltigen popkulturellen Verdrängungsfaktor entwickelt: Sie sind ein neuer Referenzpunkt im kulturellen Austausch, längst weit mehr als Popmusik. Und sie beschäftigen jene kulturinteressierten Meinungsmacher, die vielleicht vor 20 Jahren noch Film studiert hätten. Wer etwas auf sich hält – und darauf, dass andere etwas von ihm halten – kann über die neuesten US-Serien parlieren. Serienschauen wurde zum Statussymbol. Zum Massenphänomen braucht es aber noch: Zumindest in Mitteleuropa sind die absoluten Seherzahlen immer noch gering, vor allem im Vergleich zum „normalen“ Fernsehen. Auch das Kino leidet hier nicht wesentlich unter der neuen Konkurrenz. Der Boom ist hier derzeit eher ein kulturprägender, so wie vielleicht der Techno in seinen Anfangsjahren. In den USA ist das schon anders.
Der Boom der Serien hätte nicht überraschender sein können: In den Nullerjahren war das Fernsehen wie gelähmt – vor allem in Hinsicht auf eigenproduzierte Fiktion. Übergreifende Erzählungen fanden ihren Weg ins TV-Programm in der Hauptsache als Kinofilm, der Jahre nach dem Kino ins Fernsehen kam. Selbst produzierte das Fernsehen in Europa Reality-Shows , Krimis und lendenlahme Schauspielerpräsentationsflächen – was Filmfreunde gerne abschätzig als „Fernsehfilm“ bezeichnen. In Amerika gab es (sehr erfolgreiche) Serienformate, die aber auf schnelle Gags und ebenso schnell gelöste Problemstellungen setzten: Fernsehen war auf die Viertelstunde hin getaktet, bei den Gags auf die Minute.
Das war den Sehern ganz offensichtlich nicht genug. Im Kabelfernsehen gab es erste Leuchttürme größeren, stilprägenden, nuancenreichen Serienerzählens: „Sopranos“ (1999), „The Wire“ (2002), „Mad Men“ (2007), „ Breaking Bad“ (2008). Hier traute sich das Fernsehen den langen Atem zu, große Budgets waren da. Das Fernsehen zeigte, was es kann.
Aber es brauchte noch etwas Entscheidendes, um kulturprägend zu werden: Das Internet. Andere Popkulturformen hatten damit wenig Glück gehabt: Der Musik raubte das Internet den Markt, ohne ihr dafür im Austausch etwas zu geben.
Beim neuen Fernsehen aber war es anders. Denn das trat – in Form von Netflix – rasch nach dem Moment, als die Bandbreiten Fernsehstreaming großflächig zuließen, mit einem recht umfangreichen und technologisch ausgereiften Online-Angebot auf, mit dem man theoretisch das ganz große Publikum erreichen konnte. Und die US-Amerikaner waren es dank Kabelfernsehen gewöhnt, für Fernsehen zu bezahlen. Im Vergleich zu den sündteuren Kabelpaketen (oft hunderte Dollar im Monat) erschien die Streaminggebüher von weniger als zehn Dollar billig. Und so war plötzlich war ein Markt da, der mit Inhalten gefüllt werden wollte. Und der verlangte, dass die Kunden möglichst lange dran bleiben.
Aufmerksamkeitsökonomie
So war es auf einmal ein Nachteil, wenn eine Serienfolge einen Abschluss bot: Dann sank die Motivation, weiterzuschauen. Also mussten große Bögen her – der „Cliffhanger“ wurde zur Normalität. Der Markt an derartigen Serien war endenwollend, die Kabelbetreiber wollten ihre Serien (zumindest in den USA) weiter nur selbst anbieten. 2012 stieg Netflix in die Content-Produktion ein – der Rest ist TV-Geschichte: Mit „House Of Cards“ und der weltweiten Expansion wurde Netflix zu einem der größten Medienanbieter der Welt, schon 2016 produzierte man mehr eigene Serien als alle anderen Sender – und investierte mehr Geld in Content als alle anderen.
Netflix wurde, hielt der Economist kürzlich fest, eine eigene Industrie. 125 Millionen Abonnenten hatte der Anbieter zuletzt weltweit, 22, 5 Milliarden Dollar sollen 2022 in eigenen Content fließen – fast so viel wie alle anderen TV-Studios und Kabelanbietern.
Das wiederum weckte die Konkurrenz aus dem Schrebergartenschlaf: HBO begann, seine Hits wie „Game Of Thrones“ weltweit zu lizenzieren – und diese wurden für Anbieter wie Sky zum wichtigen Kundenwerbeinstrument. Amazon, Apple, Disney, Fox haben bereits oder wollen in naher
Zukunft Streamingdienste anbieten (was den Erfolgslauf von Netflix zuletzt etwas dämpfte). Und die Fernsehlandschaft hat sich aufgeteilt: In reguläres Fernsehen – und das neue Fernsehen. Die Angebote des letzteren funktionieren übrigens immer noch nicht im „normalen“ Fernsehen.
Brandaktuell
Noch etwas ist passiert: Fernsehen wurde nicht nur zur neuen Erzählform der Gegenwart, zum Schauspieler- und Regisseursparadies. Sondern auch politisch: Serien wie „Black Mirror“ oder „Handmaid’s Tale“ reflektieren die negativen Technologie- und Gesellschaftsentwicklungen; „The Crown“, „ Narcos“, „Get Down“ und andere bieten historisches Wissen und Unterhaltung. Hier tritt das neue Fernsehen dann doch in direkte Konkurrenz zum Kino – dessen Form (120 Minuten) plötzlich vergleichsweise kurzatmig aussieht. Letzteres zog sich auf das zurück, was es besser kann als das Streamingfernsehen am Laptop oder Handy: Große Bilder nämlich, und den sozialen Aspekt. Die prägenden Erzählungen kommen aber aus dem Fernsehen. Ganz viele klassische Filmregisseure – von Michael Haneke bis Woody Allen – liebäugeln mit dem Genrewechsel oder haben inzwischen bereits Serien gedreht.
Bumm nach dem Boom?
Das Angebot an Erzählserien ist inzwischen unbewältigbar; neue werden produziert – und alte, erfolgreiche werden in die x-te Staffel geschickt, auch, wie etwa bei „Orange Is The New Black“, über den richtigen Moment zum Aufhören hinaus. Ist man zu pessimistisch, wenn man da schon die größte mögliche Ausdehnung einer Inhaltsblase zu sehen vermeint – die noch dazu in den nächsten Jahren, siehe Seite 24, noch weiter ausgedehnt wird? Gibt es Grenzen des großen Erzählens, kommt irgendwann wieder die kleine Form? Die Gefahr ist jedenfalls, dass das stetig wachsende Angebot an Serien den Boom auf andere Art abwürgt: Dass sich das Publikum nämlich wieder in kleine Serien- und Angebotsnischen zurückzieht, und so der gemeinsame Gesprächsstoff wieder verloren geht. Dann wird man auf die letzten eineinhalb Jahre als kulturelles Sonderphänomen zurückschauen – das aber Wesentliches in der Popkultur verändert hat
Kommentare