Wo biegt man am besten ab?

Judith W. Taschler lebt in Tirol
"bleiben" von Judith W. Taschler: Flüchtige Begegnungen können das ganze Leben ändern, oft merken es nicht einmal die Betroffenen.

Auch die schönste Fassade bröckelt irgendwann. Beim x-ten Bier im Beisl, wenn der Anwalt Paul bei einem Freund seine Lebensbeichte ablegt zum Beispiel.

Ausgerechnet Paul, der Oberkorrekte, mit dem Lebensmotto: "Wenn ich für die Gesellschaft keinen Nutzen habe, ist mein Leben sinnlos."

Oder gerade Paul, der eine quälende Schuld mit sich trägt: "Lass uns noch ein bisschen bleiben", sagt er zu seinem Freund und bestellt noch eine Runde. Seine Frau wartet ohnehin nicht auf ihn. Sie ist bei ihrem Geliebten. Er ist ihr nicht böse, er fühlt sich schuldig. Warum, das erzählt er erst viele Biere später.

Der Putz bröckelt bald bei allen Protagonisten von "bleiben". Judith W. Taschler ("Die Deutschlehrerin", "Roman ohne U") lässt vier Menschen in Monologen erzählen. Das klingt anstrengend, ist es aber nicht.

Quälende Fragen

Wie so oft in Monologen geht es um die Liebe. Nicht nur zum Partner, sondern auch zu Eltern und Freunden. Und um Pflicht- und Schuldgefühle, die sich aus Beziehungen im Laufe der Zeit so ansammeln. Und um die Hoffnung, dass aus der Welt verschwindet, worüber beharrlich geschwiegen wird.

Würde das Buch verfilmt werden, würde sich "Should I stay or should I go" von The Clash als Titelmusik aufdrängen. Um diese Frage dreht sich alles.

Um die unerträgliche Zerrissenheit, die mit dieser Frage einhergeht.

Soll man bei seiner Mutter bleiben, obwohl man ihr nicht mehr in die Augen schauen kann?

Soll man beim Ehemann bleiben, wenn man lieber zu einen anderen Mann geht?

Was wäre gewesen, wenn die Mutter zu ihrer Liebe nach Rom gegangen wäre statt am Hof zu bleiben?

War es gescheit, vor jeder Verantwortung davonzulaufen, Freigeist zu bleiben?

Und was ist, wenn man plötzlich gar keine Wahl mehr hat? Wie Felix, der unheilbaren Krebs hat und von der quälenden Frage geplagt wird, ob sein Leben nicht völlig sinnlos war. Dass er doch etwas hinterlässt, erfährt man erst viele Monologe später.

Judith W. Taschler:
„bleiben“
Droemer Verlag.
256 Seiten. 20,60 Euro.

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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