Wiens verdrängter Hitler-Balkon - zentral am Rathausturm

Vom beflaggten Burgtheater schallten Wagner-Klänge herüber: Adolf Hitler am 9. April 1938 auf dem für ihn errichteten Rathaus-Balkon
Das Provisorium am Rathaus, 1938 für den Führer errichtet, wurde in der Folge in Stein gemeißelt. Nun hebt eine Debatte an.

Der Heldenplatz steht längst als Synonym für den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Denn vom „Balkon“ der Neuen Burg, der eigentlich kein „Balkon“, sondern ein „Söller“ ist, hielt Adolf Hitler am 15. März 1938, drei Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht, eine flammende, eifrig bejubelte Rede. Dieser Jubel hallt bis heute nach – etwa in Thomas Bernhards Stück „Heldenplatz“ und in einem Gedicht von Ernst Jandl: „der glanze heldenplatz zirka / versaggerte in maschenhaftem männchenmeere ...“

Just dort, in der Neuen Burg, wird am 10. November das Haus der Geschichte Österreich eröffnet. Den gemeinhin gebrauchten Begriff „Hitler-Balkon“ vermeidet Direktorin Monika Sommer aber. Sie spricht vom „Altan“. Einen Hitler-Balkon gibt es trotzdem in Wien – am anderen Ende der Sichtachse Neue Burg und Rathaus. Er wurde zunächst als Provisorium für Hitler errichtet, der am 9. April, wenige Wochen nach seiner Heldenplatz-Show, noch einmal die Huldigungen entgegennahm.

Beliebtes Fotomotiv

Wiens verdrängter Hitler-Balkon - zentral am Rathausturm

Dieser Balkon, in der Folge als bleibende Erinnerung in Stein gemeißelt, geriet, obwohl er markant aus der Front des zentralen Rathausturms hervorsticht, in Vergessenheit. Abertausende Wien-Touristen fotografieren ihn – ohne auch nur zu ahnen, ein Relikt aus der NS-Zeit digital in alle Welt zu versenden.

Die Geschichte des Balkons wurde von der Wienbibliothek als Teil einer Schau über „Die Wiener Stadtverwaltung 1938“ aufgearbeitet, die bis 21. September zu sehen war. Doch mit dem Titel „Wir wissen es, dass diese Beamtenschaft ihre Pflicht auch im neuen Wien tun wird“ vermochte sie keine allzu große mediale Aufmerksamkeit zu erreichen. Was hiermit nachgeholt wird.

Im exzellenten Katalog beschäftigt sich Gerhard Murauer mit der „nationalsozialistischen Raumnutzung“ des Rathauses. Eher unvermittelt leitet er zu den Ereignissen rund um den 10. April 1938 über, als die Volksabstimmung zur „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ stattfand, die mit einem gefakten Ergebnis – 99,73 Prozent „Ja“-Stimmen – endete. Tags zuvor stand ein Besuch des Führers im Rathaus an, das bereits seit 12. März am „Adolf-Hitler-Platz“ lag. Das neugotische Gebäude hatte aber keine geeignete Plattform. So wurde die Brüstung des Turms abgetragen und durch eine halbrund hinausragende Holzkonstruktion ersetzt, die man mit einer Hakenkreuzfahne verhüllte. Kurz vor 12 Uhr trat Hitler zu Wagner-Klängen, die vom beflaggten Burgtheater herüberschallten, vor die Menge.

 

Wiens verdrängter Hitler-Balkon - zentral am Rathausturm

Der damalige NS-Bürgermeister Hermann Neubacher wollte dauerhaft an die „Proklamation des Tages des Großdeutschen Reiches“ erinnern und eine Infrastruktur für künftige Massenkundgebungen (samt Mikrofon und Lautsprecheranlage) schaffen: Auf seine Anordnung hin wurde der Balkon in Stein ausgeführt, angelehnt an die Formensprache des Rathaus-Architekten Friedrich Schmidt, und auf eine massiv gegossene, armierte Betonplatte gesetzt. Eine Abstützung durch Konsolensäulen (wie bei den Schmidt-Balkonen) kam nicht infrage, da unmittelbar darunter ein Reiterrelief angebracht ist. Der Balkon wirkt daher plump.

 

Wiens verdrängter Hitler-Balkon - zentral am Rathausturm


 

Für die Gruppe Memory Gaps rund um die Künstlerin Konstanze Sailer, die sich im Sommer mit der Nazi-Künstlerin Leopoldine Wojtek auseinandergesetzt hatte, ist er ein Dorn im Auge. Ihn nicht schon längst abgetragen zu haben sei ein Versäumnis insbesondere des „roten, antifaschistischen Wien“. Denn der „Adolf-Hitler-Platz“ wurde nach dem Krieg sehr wohl wieder zum Rathausplatz.

Umgang mit dem Erbe

„Memory Gaps“ kritisiert zudem, dass die Wienbibliothek zwar die Geschichte nacherzählte, aber keine Schlüsse zog – und auch keine Andeutung macht, wie die Stadt mit einem solchen „Erbe“ umgehen soll. Die Gruppe regt daher an, den Balkon anlässlich 80 Jahre „Anschluss“ zu entfernen; die Kosten lägen wohl unter 100.000 Euro.

Rektorin Eva Blimlinger hingegen, Leiterin der Kommission für Provenienzforschung, plädiert für den Erhalt – samt Kontextualisierung. „Auch dieser Balkon ist wie so vieles, das im Nationalsozialismus entstanden ist, Bestandteil unserer Geschichte.“ Vielleicht ließe sich, so Blimlinger, der Hitler-Balkon gleich in das „European Balcony Project“ von Robert Menasse integrieren. Wie berichtet, wird am 10. November um 16 Uhr im Rahmen einer Intervention von vielen Balkonen die Republik Europa ausgerufen.

Kommentare