Sonnentheater erleuchtet die Festwochen
Stummfilme haben Saison. Nach dem Oscar-prämierten Streifen "The Artist" von Michel Hazanavicius erzählt Ariane Mnouchkine in "Les Nau- fragés du Fol Espoir (Aurores)" – "Schiffbruch mit verrückter Hoffnung (Morgenröte)" – von der abenteuerlichen Reise einer Stummfilm-Crew vor dem Ersten Weltkrieg. Wie die "Verrückte Hoffnung" zu den Klängen der "Internationale" in See sticht und – wie die Welt – Schiffbruch erleidet, und die Pioniere einer gerechteren Gesellschaft nach der Utopie suchen.
Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil triumphierte bei den Wiener Festwochen zuletzt 2008 mit "Les Éphémères". Auch diesmal stimmen Einblicke in die Garderoben hinter transparenten Vorhängen schon vor Beginn der Vorstellung ein in der Halle A der Messe Wien, wo die Schauspieler die Masken anlegen, während die Besucher die ihren alsbald ablegen. Dann wird in kurzweiligen vier Stunden eine von einem mysteriösen posthumen Roman von Jules Verne inspirierte Collage aus Kinderbuch, Abenteuerroman und Zeitgeschichte ausgebreitet.
Idealisten
Das "Sonnentheater" entführt mit prachtvollen Kostümen ins Fin de siècle und geht frei mit historischen Wahrheiten um: Die Helden drehen einen Stummfilm, beginnend 1889 in Mayerling, wo Kronprinz Rudolf und Erzherzog Johann Salvator einen revolutionären Brief gegen Kaiser Franz Joseph aufsetzen. Wo Rudolf ermordet wird. Eine erste „verrückte Hoffnung“ ist gescheitert.
Johann Salvator reist nach Südamerika und verschwindet 1890 vor Kap Hoorn. Doch im Film taucht der Verschollene als Beschützer der Indianer auf der Insel Hoste auf Feuerland wieder auf
Der Kinematograf bringt Licht ins Dunkel der Krisen und Kriege, die wir dem Kaiser, dem Kolonialismus und dem Kapitalismus verdanken. Bezaubernd sind die Bilder vom Making-of eines Stummfilms voller burlesker Slapstick-Effekte. Vor jeder Szene werden schnell Kulissen hereingetragen, Windmaschinen angeworfen. Im Nu entsteht ein Schneesturm. Die Schiffskatastrophe wird am Modell eines Dreimasters im Planschbecken inszeniert. Die Möwe zappelt an einem Stab.
Das rührt jene, die sich die größten Schätze der Kindheit bewahrt haben: Leichtgläubigkeit und Begeisterung. In diesem Sinn macht Mnouchkine Kindertheater für Erwachsene. Aber auch Unterhaltung mit Haltung: Politisch aktives Theater, das gesellschaftskritisch auf die soziale Wirklichkeit Einfluss nehmen und „die Bedingungen, unter denen wir leben, verändern“ möchte.
Die Frage ist: Wie soll, wie wird die neue Gesellschaft aussehen? Freiheit als Basis, sagt einer, Gleichheit als Mittel, Brüderlichkeit als Ziel. Oder Menschlichkeit, rufen die Frauen. Mnouchkines Theater, ein Ort der verrücktesten Hoffnungen, zeigt die Zustände der Welt, wie sie unglücklicherweise sind – und wie sie glücklicherweise sein könnten. Nicht nur klug, sondern auch sehr sinnlich.
KURIER-Wertung: ***** von *****
Fazit: Ein Abend, klug und spektakulär
Stück: "Les naufragés du Fol Espoir" ist das Making-of eines Filmes aus der Vergangenheit.
Beeindruckend: Die Stummfilmästhetik, die präzise Choreografie und ein großes Ensemble in Hochform.
Musik: Jean-Jacques Lemaitre macht das Meisterwerk über das Scheitern als Chance mit Musik vom "Radetzkymarsch" bis zur "Internationale" zur
großen Oper.
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