"Ein Bild von der Welt im Theater"
Er versteht sich als "Theatererfinder": Stefan Schmidtke, der Schauspielchef der Wiener Festwochen, im KURIER-Gespräch über die spannendsten Projekte und die großen Themen.
KURIER: Am Donnerstag beginnen die Festwochen. Läuft alles planmäßig?
Auffallend ist die große Vielfalt der Produktionen.
Das Theater ist ja ganz anders geworden. Wenn Sie ein Buch kaufen, wissen Sie: Ich lese ein Buch. Wenn Sie ins Kino gehen, dann wissen Sie: Ich sehe einen Film. Aber das Theater ist heute die Kunstform, die immer noch Überraschungen bereitet und die an allen anderen Kunstformen knabbert und nagt und sie sich langsam einverleibt. Und es kann sein, dass Sie, wenn Sie ins Theater gehen, etwas mit Video erleben, oder durch Kellergänge geführt werden, oder es gibt gar keinen Text mehr, oder Sie müssen sich durch das Internet vorwärts bewegen. Das Theater ist die lebendigste Kunstform, die am meisten "anderes" in sich aufsaugt und sich dadurch aktiv verändert. Und darum geht es im Moment. Diesen Zustand spiegelt das Programm sehr schön wider.
Die Festwochen – ein großes Universalfestival?
Genau. Es ist gut, dass wir das alles haben dürfen, allumfänglich. Ein Bild von der Welt gelingt am besten, wenn man die Verzweigungen zeigen kann. Von Shakespeare über Dostojewski und Gogol geht es bis ins Zeitgenössische, von Russland über Europa ins große Amerika, und weiter durch die Welt.
Wie haben Sie dieses Programm zusammengestellt?
Total emotional. Ich habe es – salopp gesagt – aus dem Herzen geschossen. Lars von Trier sagt in einem seiner Filme sinngemäß den genialen Satz: "Wenn das Gefühl auftaucht, bricht es jede Theorie." Stimmt, genauso ging es mir beim Programm-Machen.
Wo gibt es derzeit die spannendste Theaterszene?In Nordamerika – Toronto, New York oder Chicago – ist jetzt alles in Bewegung. Aus mir unerklärlichen Gründen. Auch in Moskau und St. Petersburg passiert im Moment viel. Ganz neue Prozesse, die aber noch nicht so weit sind, dass man sie außerhalb ihrer nationalen Kontexte zeigen müsste. In politisch schwierigen Zeiten sind die Künstler immer die Ersten, die versuchen, Wege zu finden, das zu erklären oder urbar zu machen oder zu durchdringen.
Gogols Roman "Tote Seelen" kommt ins Volkstheater?
Ja, ein echtes Highlight.
Gibt es einen roten Faden?
Die Eröffnungswolke steigt – bei "The Apple Family Plays" – mit dem Blick ins aufgeklärte Gewissen Amerikas. Hinter der Fassade des strengen Weltgendarms lässt uns eine Familie in ihr heißes Herz blicken. Wir wechseln sofort im Eröffnungsreigen in ein "Absurdistan" von Gogol und springen dann mit Peter Handke in ein Europa, wo wir immer noch nichts voneinander wissen.
Und diese Trias am Beginn ...
... setzt die Themen: Das sich völlig neu denkende Europa, zwischen dem sich mal wieder abwendenden Russland und Amerika, das so recht zweifelt über sich. Es ist wie Blättern in der Zeitung. Allerdings geht es in der Zeitung um das Was – und im Theater um das Wie.
Die Kunst erzählt vom Wie?
Ja. Wie das Herz schlägt. Wie sich das anfühlt. Wie Macht verteilt wird. Wie sie neu verteilt wird. Wie Demokratie auf eine andere Generation übergeben werden muss. Und dieses eigenartige Bild von Europa: Wie wir alle nur noch aneinander vorbeirennen ...
Dem entspringt alles andere?
Ja. Wenn Kettly Noël aus Mali die Frage stellt: Was wäre ich, wenn ich gar keine Schwarze wäre? Wie wäre meine Welt dann? Das passt dann zum großen Europa-Thema, wo wir Migration diskutieren.
Die großen Themen?
Sie sind da, auch in der Literatur, wenn ich an die "Edward II."-Bearbeitung von Palmetshofer, an Ibsen und Dostojewski denke, bis hin zu Peter Handke.
Wie wichtig sind Kooperationen?
Festival ist sinnbildlich: Phoenix aus der Asche. Jedes Jahr brennen wir einmal lichterloh, um uns im nächsten Jahr wieder aufzuschwingen. Wenn ich – wie heuer – Regisseure wie Simon Stone, Nora Schlocker oder Sebastian Nübling einlade, braucht es starke Schauspieler. Und deshalb kooperieren wir mit Theatern. Das Gute daran: Unsere Produktionen leben weiter – in Wien, Berlin, Basel, Bremen, Amsterdam und an anderen Orten.
In den Niederlanden, in Belgien, Spanien und Italien werden reihenweise Finanzierungsmodelle eingestellt?
Ja. Es ist schwieriger geworden: Es gibt großartige Kompanien wie die Toneelgroep Amsterdam, die ohne uns oder andere Kooperationspartner kaum noch überleben können. Große Festivals – Avignon, Edinburgh, Berlin, Wien, Holland usw. – tragen da im Moment eine große Verantwortung.
Also worauf kommt’s an?
Wir müssen unser Phoenix-Feuer ordentlich schüren und dafür sorgen, dass die Leute mit Spannung, Erleichterung, Hysterie und Gewogenheit die Künste tragen. Wir sind auch die, die anspruchsvoll sein sollen und dürfen. Die einen wollen primär unterhalten werden. Die anderen wollen genau das Gegenteil: eine harte Auseinandersetzung mit den Facts in der Welt. Da muss man schauen, wie man die Feier der Kunst hat und trotzdem die Welt zum Gegenstand.
In "The Apple Family Plays" (ab 19. 5.) von Richard Nelson agieren die Mitglieder einer US-Familie als Zeitzeugen der jüngeren Geschichte. Das Stück ohne Worte "Die Stunde da sie nichts voneinander wussten" (21. 5.) von Peter Handke haben Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper neu adaptiert. Die Marlowe-Weiterschreibung "Edward II. Die Liebe bin ich" (26. 5.) von Ewald Palmetshofer wird in der Regie der jungen Österreicherin Nora Schlocker aufgeführt. Uraufgeführt wird "Kings of War" (ab 5. 6.) über Machtergreifung und -ausübung nach den Shakespeare'schen Königsdramen (Regie: Ivo van Hove). Im Spannungsfeld zwischen Kunst und Krieg spielen "Ajax & Little Iliad" (4. 6.) von Frank Cox-O’Connell und Evan Webber. Ein grenzgenialer Narr ist die Titelfigur in "Kauza Schwejk / Der Fall Švejk": Dusan David Parizek bringt eine Dramatisierung von "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" (11. 6.). Frank Castorf schließt mit "Die Brüder Karamasow" (29. 5.) seinen großen Dostojewski-Zyklus ab.
Link: www.festwochen.at
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