Weltkrieg als Höllenfahrt: Die Seele aus dem Leib geschrien

Das Maschinenwelttheater des Paulus Mankler: Viele Fackeln, Nebelschwaden und ein „Turmwagen“, der als Triumpfzug oder Katafalk durch die Serbenhalle rollt
"Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus: Paulus Manker zeigt in der Serbenhalle eine Variante zum letzten Jahr

Das dampfende, lodernde, zischende und blubbernde Maschinenwelttheater des Paulus Manker, vibrierend untermalt von mächtiger symphonischer Musik, beginnt wie bei Karl Kraus. Vor dem Lederwarengeschäft des August Sirk bieten Zeitungsverkäufer eine Extra-Ausgabe an: „Ermordung des Thronfolgers! Da Täta vahaftet!“

Und es endet, wie es letzten Sommer geendet hatte: Anna gesteht ihrem „inniggeliebten“ Mann, der doch nicht gefallen ist, von einem Kerl schwanger zu sein. „Verzeihe es mir, lieber Franz, vielleicht stirbt das Kind und dann ist alles wieder gut.“

Von einer Wiederaufnahme zu sprechen wäre aber verfehlt. Paulus Manker hat eine andere Version, eine Variante von „Die letzten Tage der Menschheit“ herausgearbeitet. Und damit auch jene in seinen Bann gezogen, die das facettenreiche Spektakel in der Serbenhalle von Wiener Neustadt bereits kennen.

Karl Kraus, der Chronist und Kommentator des Ersten Weltkriegs, hielt seine Tragödie für nicht aufführbar. Zu überbordend, zu vielschichtig ist das aus gefundenem Material und belauschten Gesprächen kompilierte Panoptikum, das aus 220 Szenen mit 1114 Rollen besteht und an 137 Orten spielt.

Im Juli 2018 hatte Manker 75 Szenen mit großen Gesten und vielen Fackeln zur umjubelten Aufführung gebracht. Doch das reichte dem Maniac nicht: Acht Stunden sollte heuer der Abstieg in die Hölle, eines langen Tages Reise in die Finsternis, dauern. Geworden sind es knapp sieben. Und statt der angekündigten Hälfte der Szenen gibt es nur deren 100. Aber wenn man bedenke, so Manker im exzellenten Programmbuch, dass ein Fünftel des Stückes vom Sachlichen her nicht mehr verstanden werden könne oder eine Wiederholung von bereits Gesagtem darstelle, bekomme man eigentlich den Großteil dargeboten.

Nörgler als Nebenfigur

Was stimmt. Aber nicht ganz. Denn Manker übernahm vom Simultandrama „Alma“ nicht nur den im Laufe der Jahre in der Serbenhalle angehäuften Fundus, sondern auch die Idee der parallelen Handlungsstränge. Die für das Verständnis wichtigen Szenen finden zwar für alle Zuschauer gemeinsam statt, zwischendurch aber muss man sich immer wieder entscheiden, welchen Figuren man in die Küche, den Salon, das Bad und in die Kanzleien folgt: den Tachinierern oder Pfaffen, den Journalisten oder Huren, den Militärs oder Adabeis. Das kann dazu führen, dass man Manker vielleicht kein einziges Mal als Nörgler, als Alter ego von Karl Kraus, erlebt. Was allerdings nicht weiter verwunderlich ist. Denn im Gegensatz zu bisherigen Inszenierungen sind die Dialoge mit dem Optimisten in Mankers Neufassung kein Pfeiler.

Die einzige Figur, der man immer wieder begegnet, ist „die Schalek“, eine anfangs ziemlich naive Kriegsberichterstatterin. Ihre Rolle, wieder von Iris Schmid im langen Ledermantel verkörpert, hat Manker mit zusätzlichen Szenen aufgewertet. Und irgendwann stellt sie „zwischen den gestorbenen Häusern“ ernüchtert die Frage: „Wer ist dieser Krieg?“

Im Programm ist zu diesem eindringlichen Monolog als Quelle die Szene 33 des zweiten Akts angegeben. Was sich als Finte von Manker herausstellt: Just jene Zeilen der Alice Schalek fehlen in der Textsammlung. Denn Kraus wollte die Reportern als Megäre darstellen; Manker hingegen ließ ihr Gerechtigkeit widerfahren und revidierte den bissigen Autor.

Herzkranker Hofrat

Die Angabe „2.33“ verweist auf eine der wohl amüsantesten Szenen, den Streit zwischen dem herzkranken Hofrat Schwarz-Gelber und seiner jüngeren Frau Ida, die partout keinen Charity-Event auslässt. Manker beklagt mit Melone und Stock das Schicksal – und verwandelt sich (als Insidergag) zwischendurch in Oskar Kokoschka. Seine Gegenspielerin Elisabeth Kofler ist schließlich eine erprobte Alma-Darstellerin. Mit Genuss zitiert Manker auch aus dem Ibiza-Video: Journalisten seien die größten Huren. Und bereits zuvor, in der G’stättn mit dem neuen Schützengraben, hat man ein knalliges „Zack, Zack, Zack“ vernommen.

Am Ablauf hat Manker nichts verändert: Mit dem Zug fährt man hinaus ins Schlachtfeld; immer wieder rollt der „Turmwagen“, eingetaucht in Nebelschwaden, durch die Halle. Und der „Gusto auf einen Sturmangriff“ vergeht mit der Zeit.

Den Leichenschmaus gibt es nicht mehr nach dem Tod des alten Biach, sondern jenem des Kaisers. Und danach setzt Manker als Major Bambula, den trotz Rationierung nach Fleisch gelüstet, ein Glanzlichtchen. Aber das gesamte Ensemble – darunter Gerhard Swoboda, Henry Arnold, Gunter Matzka und Gottfried Neuner – leistet geradezu Unmenschliches. In einer Vielzahl von Dialekten und Rollen schreien sich die Akteure die Seele, ihre Theaterseele, aus dem Leib. Es war erneut ein großer Abend.

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